Muss mein Kind jetzt zum Bund? Wer vom neuen Wehrdienstgesetz betroffen ist
Deutschland braucht mehr Soldaten, um sich wieder selbst verteidigen zu können. Darin ist sich die Regierungskoalition einig. Derzeit hat die Bundeswehr 182.000 Soldatinnen und Soldaten, bis 2035 sollen es mindestens 260.000 werden. Um das zu schaffen, soll es wieder selbstverständlicher werden, Wehrdienst zu leisten. Dazu hat das Kabinett am Mittwoch ein Gesetz zur Wiedereinführung des Wehrdienstes beschlossen. Die allgemeine Wehrpflicht ist in Deutschland seit 2011 ausgesetzt.
Wer ist vom neuen Gesetz betroffen?
Das neue Gesetz sieht deshalb vor, dass ab 2026 alle jungen Männer und Frauen zu ihrem 18. Geburtstag einen Fragebogen erhalten. Damit soll das Interesse an einem Dienst bei der Bundeswehr abgeklopft werden. Männer müssen den Fragebogen ausfüllen, für Frauen ist er freiwillig. Geeignete Kandidaten werden dann ausgewählt und zur Musterung eingeladen. Einen Zwang zum Wehrdienst soll es – zunächst – nicht geben.
Darüber hinaus soll die Bundeswehr Frauen und Männer ab dem Jahrgang 2001 ebenfalls kontaktieren und ihnen Informationsmaterial zusenden. Ziel ist, dass zumindest einige von ihnen ihre freiwillige Bereitschaft zur Bundeswehr erklären. Auch hier besteht keine Pflicht.
Gleichzeitig verfolgt Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius verschiedene Ansätze, um den Wehrdienst attraktiver zu machen. Dazu gehört auch ein höherer Sold. Wehrdienstleistende sollen künftig als Zeitsoldaten bezahlt werden und somit mehr als 2000 Euro netto monatlich verdienen.
Was ändert sich 2027?
Ab dem 1. Juli 2027 wird das Auswahl-Verfahren verschärft: Ab dann wird es wieder eine verpflichtende Musterung geben, und zwar erstmals für Männer ab Jahrgang 2008. Ziel sei es, ein „umfassendes Lagebild über potenziell verfügbares Personal zu gewinnen“, so das Bundesverteidigungsministerium. Dies gilt als Vorbereitung für den Fall, dass sich nicht genügend junge Deutsche freiwillig zum Wehrdienst melden.
Wie schnell kann eine echte Wehrpflicht eingeführt werden?
Der neue Paragraf 2a im Wehrpflichtgesetz (WPflG) gibt der Bundesregierung die Befugnis, die Einberufung zum Grundwehrdienst per Rechtsverordnung anzuordnen, sollten sich nicht genügend Freiwillige finden. Dies solle auch „außerhalb des Spannungs- oder Verteidigungsfalls“ möglich sein, sofern die verteidigungspolitische Lage „einen schnellen Aufwuchs der Streitkräfte erfordert, der auf freiwilliger Basis nicht erreicht werden kann“. Die Aktivierung dieser Klausel muss vom Bundestag bestätigt werden.
Damit weicht Pistorius mit dem Gesetz von der ursprünglichen Idee ab, das schwedische Modell zu kopieren. Dort wird zunächst die benötigte Zahl an Soldaten pro Jahr festgelegt. Wenn sich nicht genügend Freiwillige melden, um die Vorgabe zu erfüllen, gilt automatisch wieder eine Wehrpflicht, bis diese Zahl erreicht ist.
Wie wahrscheinlich ist eine Wiedereinführung der Wehrpflicht?
Würde die Wehrpflicht wieder in Kraft gesetzt, würde sie dann wieder alle deutschen Männer zwischen dem 18. und dem 60. Lebensjahr betreffen. So steht es in Paragraph 3 Abs. 5 des Wehrpflichtgesetzes, das seit 2011 lediglich ausgesetzt ist. Pistorius glaubt jedoch, dass das nicht notwendig sein wird. "Wir setzen auf Freiwilligkeit, wir bekommen diese Zahlen", sagte er am Mittwoch vor der Kabinettssitzung dem Deutschlandfunk.
In diesem Jahr will die Bundeswehr erst einmal 15.000 Freiwillige finden. Schon bis August hätten sich 13.000 gemeldet, sagte Pistorius. Es gebe Zuwächse bei Bewerbungen und Einstellungen. "Also spricht im Augenblick jetzt gerade gar nichts dafür, dass wir im nächsten Jahr schon in Not geraten - ganz im Gegenteil." Pistorius geht davon aus, dass man sich in diesem Jahr sogar der Zahl von 20.000 Wehrdienstleistenden nähern werde. Die Zahlen im Jahr 2026 "werden gut sein, davon können Sie ausgehen."
Alles in allem könnten mit dem neuen Gesetz "bis zum Ende des Jahrzehnts über 100.000 zusätzliche Wehrdienstleistende ausgebildet" werden. Diese stünden danach auch in der Reserve zur Verfügung, sagte Pistorius. Hinzu kämen "diejenigen, die noch in der alten Reserve sind, sodass wir dann relativ mühelos auf die Zahl von 200.000 Reservisten kommen müssten".
Kann ich der Wehrpflicht entgehen?
Ja – unter bestimmten Umständen. Schon in früheren Jahrzehnten gab es die Möglichkeit, den Kriegsdienst aus Gewissengründen zu verweigern. Das ist sogar als Grundrecht in Artikel 4 des Grundgesetzes festgeschrieben. Das frühere Bundesamt für den Zivildienst, das darüber entscheidet, heißt mittlerweile Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA).
Für ungediente und noch nicht gemusterte Wehrpflichtige legt das Kriegsdienstverweigerungsgesetz den folgenden Ablauf fest: Sie können frühestens ein halbes Jahr vor ihrem 18. Geburtstag einen Antrag auf Verweigerung des Wehrdienstes beim Karrierecenter der Bundeswehr stellen. Danach ist das jederzeit möglich – selbst nach einer Einberufung noch. Die Antragstellung hindert die Bundeswehr allerdings weder an der Erfassung des Wehrpflichtigen noch an der Musterung. Im Gegenteil: Wer den Antrag stellt, wird auf jeden Fall zur Musterung geladen.
Für den Automatismus gibt es einen einfachen Grund: Aus ökonomischen Gründen wurde festgelegt, dass das BAFzA, vormals das Bundesamt für den Zivildienst, überhaupt erst tätig werden muss, wenn klar ist, dass der Antragsteller grundsätzlich zum Wehrdienst tauglich ist. Wird er ausgemustert, entfällt auch der Grund für den Antrag, weil er dann ohnehin nicht eingezogen werden kann.
Deswegen muss der Antrag formal auch bei der Bundeswehr gestellt werden. Die Bundeswehr leitet ihn dann erst an das Bundesamt weiter, wenn der Musterungsbescheid rechtskräftig ist. Eine Musterung kann nämlich grundsätzlich auch gerichtlich angefochten werden.
Wird der Antrag auf Verweigerung allerdings rechtskräftig abgelehnt – auch dort besteht die Möglichkeit zum Widerspruch –, schickt das Bundesamt die Personalakte des Antragstellers an das Karrierecenter der Bundeswehr zurück. Die kann dann theoretisch jederzeit auf die Dienste des Wehrpflichtigen zugreifen.
Ist es ratsam, jetzt schon vorsorglich zu verweigern?
Es gibt junge Menschen, die das auch in den vergangenen Jahren regelmäßig getan haben. Das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) hat im vergangenen Jahr 2246 Anträge erhalten, 1478 wurden genehmigt. Die Zahl der Genehmigungen erfolgt naturgemäß zeitversetzt, daher sind zum Beispiel im laufenden Jahr statistisch gesehen bis zum 31.7. bereits mehr Anträge genehmigt worden, als eingegangen sind (s. Grafik oben).
Wie oben beschrieben führt ein Antrag auf Kriegsdienstverweigerung jedoch unmittelbar zu einer Musterung. Die Freiwilligkeit entfällt dann. Im – aus Sicht des potenziellen Kriegsdienstverweigerers – ungünstigen Fall wird die Bundeswehr also erst durch den Antrag auf ihn aufmerksam. Wird der Antrag auf Kriegsdienstverweigerung abgelehnt, könnte – sofern die Wehrpflicht beschlossen wird – er dann unmittelbar eingezogen werden. Daher wurden Anträge auf Kriegsdienstverweigerung auch in früheren Zeiten meist erst dann gestellt, wenn die Einberufung zur Musterung vorlag. Am übrigen Prozedere oder gar den „Erfolgschancen“ ändert der Zeitpunkt nichts.
Steigt die Zahl der Kriegsdienstverweigerer bereits an?
Ja – und zwar schon seit 2022. Man beobachte seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges eine steigende Zahl von Anträgen auf Kriegsdienstverweigerung, teilte eine Sprecherin des BAFzA auf Anfrage von FOCUS online mit. Waren es in den Jahren zuvor oft nur um die 200 Anträge pro Jahr, stieg die Zahl 2023 auf 844 und bis 2024 sogar auf 2246 an.
2025 stellten im ersten Halbjahr bereits 1383 Menschen einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung. 2024 waren es im gleichen Zeitraum 1117 , 2023 sogar nur 576.