Krisenstimmung in Karelien: Russland marschiert massiv an Finnlands Grenze auf
Panzerhallen, neue Strukturen und massive Rekrutierung: Ähnlich wie Stalin ist Putin drauf und dran, den nächsten „Winterkrieg“ vom Zaun zu brechen.
Petrosawodsk – „Es gibt Grautöne zwischen Frieden und Krieg. Das ist die neue Normalität im Zusammenleben mit Russland“, sagt Jarno Limnell. Das Wall Street Journal (WSJ) hat den finnischen Parlamentarier kürzlich zitiert, weil Limnell wiederholt auf Russlands subtil hybriden Krieg gegen Finnland hinweist. Wie das WSJ jetzt nachlegt, wird Wladimir Putins Invasionsarmee parallel zum Ukraine-Krieg auch gegen Finnland offensiv.
In der russischen Stadt Petrosawodsk soll Russland einen bestehenden Militärstützpunkt erweitern. Damit könne der Kreml rund 160 Kilometer östlich der Grenze zum zweitjüngsten Nato-Partner Finnland innerhalb der kommenden Jahre eine Basis für Zehntausende Soldaten geschaffen haben, mutmaßt WSJ-Autor Thomas Grove. Prekär wird dieser Umstand vor dem Hintergrund, dass die Nato Mitte 2024 beschlossen hat, eines ihrer beiden Hauptquartiere im finnischen Mikkeli einzurichten – ein für Russland doppelter Affront.
Signal an Putin: „In Mikkeli ist ein sogenanntes hoch einsatzbereites Nato-Unterhauptquartier stationiert“
Im August hatte das Magazin Iltalehti berichtet, in Mikkeli würde ein Unterstab der Nato-Landstreitkräfte eingerichtet – von dort geleitet würden dann die Ausbildung und die Operationen einer Nato-Brigade von bis zu 5.000 Soldaten aus Finnen und Norwegern zum Schutz der finnischen Grenze. Die würde parallel zu den finnischen Streitkräften operieren. Wie das Magazin Nordic Defense Review (NDR) zeitgleich schreibt, hätte Mikkeli als Standort den Zuschlag bekommen aufgrund seiner strategischen Lage und der dort bestehenden militärischen Strukturen, so NDR.
„Finnland wurde zum Friedhof der Roten Armee.“
Mikkel liegt Luftlinie rund 400 Kilometer vom russischen Petrosawodsk entfernt. Außerdem lag in der heute etwas mehr als 50.000 Einwohner zählenden Stadt das Hauptquartier des finnischen Oberbefehlshabers Carl Gustaf Emil Mannerheim während des finnischen-russischen Krieges, auch genannt „Winterkrieg“, von 1939 bis 1940, sowie dessen Fortsetzungskrieg von 1941 bis 1944. In beiden Auseinandersetzungen taten sich die Russen schwer gegen die zäh verteidigenden Finnen – die Stadt hat also für deren Moral eine erhebliche Bedeutung.
Laut der NDR werde das dortige Nato-Hauptquartier „einige Dutzend ausländische Offiziere beherbergen, mit der Möglichkeit einer späteren Erweiterung“ – aus diesem Hauptquartier heraus sollen die Vorgeschobenen Landstreitkräfte (Forward Land Forces, kurz FLF) unter schwedischem Kommando regelmäßig üben, um in Krisen schnell reagieren zu können. „In Mikkeli ist ein sogenanntes hoch einsatzbereites Nato-Unterhauptquartier stationiert, das rund um die Uhr in operativer Alarmbereitschaft ist“, schreibt Lauri Nurmi für Iltalehti. Womöglich zieht Putin in Petrosawodsk also lediglich nach. Oder er eskaliert gerade dort gezielt.
Russlands neue Karelien-Depots: Petrosawodsk gilt als Drehscheibe des Ukraine-Kriegs
Militärexperten in Russland werteten die Aktivitäten entlang der finnischen Grenze als Teil der Vorbereitung des Kremls auf einen möglichen Konflikt mit der Nato, schreibt das Wall Street Journal über Putins Aktivitäten in Petrosawodsk. Tatsächlich registriert Finnland seit rund zwei Jahren Baubetrieb in der Grenzregion zu Finnland – sowohl am nördlichen Standort Alarkutti, etwa 50 Kilometer von der finnischen Grenze entfernt in Finnisch-Lappland, als auch am Standort der mehr als 260.000 Einwohner zählenden Stadt Petrosawodsk in Karelien. „Die Bauprojekte sind das erste konkrete Zeichen dafür, dass Russland nach Jahren geringer oder gar keiner Entwicklung wieder begonnen hat, in seine Militärstützpunkte in der Nähe von Finnland zu investieren“, berichtet Mika Mäkeleinen vom finnischen Sender YLE.
Marko Eklund beispielsweise vermutet in den neuen Hallen in Petrosawodsk die neue Heimat für Panzer. Der Sender YLE hat dem ehemaligen Major und Angehörigen des Geheimdienstes Satellitenbilder vorgelegt. Die darauf ersichtliche Halle messe seinen Schätzungen zufolge etwa 50 mal 25 Meter, also rund 1.250 Quadratmeter. Bei dichter Belegung könne die Halle beispielsweise etwa 50 Panzerfahrzeuge beherbergen, so Eklund gegenüber YLE; er sehe darin aber eher ein Gebäude für die Wartung von Fahrzeugen oder anderweitiger Ausrüstung.
Eklund hält Petrosawodsk für eine Drehscheibe des Ukraine-Krieges; ihm zufolge werde darin Material von der Front wieder für die Front fit gemacht. Außerdem lagerten auf vielen Freiflächen Transportpanzer, Kampffahrzeuge und Artilleriewaffen, so Eklund „genug, um mindestens eine motorisierte Brigade von 4.000 Soldaten auszurüsten“, wie YLE schreibt. Insofern stünden sich im russischen Depot und seinem finnischen Pendant Mikkeli etwa gleich starke Kräfte gegenüber. Noch!
Putins frühe Drohung: Jeder Schritt Helsinkis in Richtung eines Nato-Beitritts ein „strategischer Fehler“
Die Entwicklung war absehbar. Bereits am Ende des ersten Jahres des Ukraine-Krieges hatte sich das vorher neutrale Finnland zum Nato-Beitritt entschlossen – was heftige Reaktionen in Russland ausgelöst hat: Wladimir Dschabarow vom russischen Föderationsrat hatte gedroht, „jeder Schritt Helsinkis in Richtung eines Nato-Beitritts wäre ein ,strategischer Fehler‘“, wie das Magazin Newsweek berichtet hat. Und auch der damalige russische Oberbefehlshaber Sergej Schoigu hatte eine blitzschnelle Aufstockung seines Militärs angedroht: Moskau wolle, laut Schoigu „ein Armeekorps in der Republik Karelien bilden“, so Newsweek.
Karelien wird durch eine 1.340 Kilometer lange Grenze in einen finnischen und einen russischen Teil getrennt. Entsprechend der Planung eines Armeekorps würden dann rund 20.000 russische Kräfte in dieser Region stationiert werden. Auch das Wall Street Journal berichtet, dass die russische Armee vor allem im Leningrader Bezirk wachsen soll. Dieser Militärbezirk wurde Anfang 2024 aus der Sowjetzeit reanimiert und soll die Republik Karelien umfassen, die Republik Komi und die Verwaltungsbezirke Murmansk, Archangelsk, Wologda, Kaliningrad, Leningrad, Nowgorod und Pskow sowie den Autonomen Kreis der Nenzen und die Stadt St. Petersburg, wie der Barents Observer berichtete.
Russlands neues Ziel: „Kleinere Brigaden werden zu Divisionen mit jeweils rund 10.000 Soldaten werden“
Laut WSJ-Autor Thomas Grove verstärkt sich Russland damit an den Schnittstellen zu Finnland, Estland und Lettland. „Kleinere Brigaden werden sich nach Angaben westlicher Militär- und Geheimdienstvertreter fast verdreifachen und zu Divisionen mit jeweils rund 10.000 Soldaten werden“, so Grove. Als mögliche neue Kaserne betrachtet der WSJ-Autor auch ein ehemaliges Militärkrankenhaus in St. Petersburg, das wohl renoviert und umgebaut würde. Überdies werde offenbar der Verlauf von Eisenbahntrassen genau beobachtet.
„Es gibt etwa ein Dutzend Punkte entlang der russisch-finnischen Grenze, an denen mechanisierte Streitkräfte die Grenze überqueren können“, sagte Major Juha Kukkola gegenüber dem Wall Street Journal. „Wenn man sieht, dass sie neue Gleisköpfe bauen oder alte renovieren, sollte man aufmerksam werden“, wie der Professor an der Nationalen Verteidigungsuniversität in Helsinki ergänzt.
Parallelen zum Ukraine-Krieg möglich: „Finnland wurde zum Friedhof der Roten Armee“
Elf Grenzübergänge bestünden zwischen Finnland und Russland, weist das WSJ aus. Aber Grenzen würden offenbar ihre Bedeutung zusehends verlieren, wie Jarno Limnell befürchtet. Der Parlamentarier hatte gegenüber dem Blatt geklagt, dass nichts mehr sei, wie seit dem Beginn von Finnlands Neutralität nach dem Zweiten Weltkrieg: „Jahrzehntelang haben wir Friedens- und Kriegszeiten getrennt betrachtet. Die Grenzen dieser Konzepte verschwimmen langsam.“ Wenn sie überhaupt je gegolten haben.
Auch der Zweite Weltkrieg hat damit geendet, dass Finnland neutral bleiben konnte – oder musste, weil das Land weite Territorien im Osten an den damals regierenden Diktator Josef Stalin abgetreten hatte. Eine deutliche Parallele zu Putins Praxis gegenüber der Ukraine. Das Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) legt in seinem Ostblog Spezial Ähnlichkeiten zwischen dem finnisch-russischen Winterkrieg und dem Ukraine-Krieg nahe.
Finnlands Neutralität sei bis in die Gegenwart ein Schlüsselelement der Sicherheit der sowjetisch-russischen Außenpolitik gewesen, so der Historiker Christian Streit. Ihm zufolge hätte Stalin sich aufgrund des territorialen Zugewinns abgewandt von seiner Maximalforderung der „Sowjetisierung Finnlands“. Auch hier zeigen sich Parallelen zu den aktuell laufenden Friedensverhandlungen: Streit hatte die Entwicklungen in seinem 2022 veröffentlichten Artikel vorausgesehen und als Ironie bezeichnet, dass ausgerechnet Putins Aggression die Finnen in die nordatlantische Verteidigungsbündnis getrieben und somit die Grenze zum Erzfeind um mehr als 1000 Kilometer verlängert hat.
Wie Autor Stefan Gagstetter in einem Kulturzeit-Beitrag für 3sat verdeutlicht hat, sehen viele Finnen deutliche Parallelen ihres Schicksals zu dem der Ukraine – auch die Überzeugung der russischen Offiziere, der „Winterkrieg“ wäre in drei Tagen zu gewinnen gewesen. Das Gegenteil wurde wahr, wie Gagstetter formuliert: „Finnland wurde zum Friedhof der Roten Armee.“