„In der KGB-Schule tief eingeschrieben“: Warum es Putin womöglich gar nicht (nur) um die Ukraine geht
Lässt sich mit Russland verhandeln? Nicht sofort – aber womöglich auf Sicht. Expertin Anne Holper sieht einen Ansatzpunkt für Diplomatie im Ukraine-Krieg.
Berlin/München – „Sofortige Verhandlungen mit Russland“: Gerade Sahra Wagenknecht fordert das im Ukraine-Krieg gerne – und hat damit augenscheinlich bei der Europa-Wahl bei den Wählern gepunktet. Dass just das – sofortige Verhandlungen – möglich ist, bezweifelt eine Expertin und Insiderin im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. Für durchaus möglich hält sie allerdings, dass Gespräche auf Sicht zum Ziel führen können: Denn Russlands Aggression gegen die Ukraine sei auch „Mittel zum Zweck“, meint Anne Holper.
Holper leitet das Zentrum für Friedens-Mediation an der Viadrina Frankfurt (Oder). Und sie berät das Auswärtige Amt von Annalena Baerbock. Die Konfliktforscherin hat also privilegierte Einblicke – und sieht schon jetzt „viele Akteure“ hinter den Kulissen an einer diplomatischen Lösung arbeiten. Aus ihrer Sicht lautet ein möglicher inhaltlicher Weg zur Einigung: Den Wunsch Russlands nach „Anerkennung“ in den Blick nehmen. Dann sei potenziell die Souveränität Ukraine auch nicht mehr „der Preis für Frieden in Europa und auf der Welt“. Und die Ukraine sei schließlich ein souveränes Land und keine „Verfügungsmasse“.
Ukraine-Krieg: Lösung auf dem Schlachtfeld? „Frage ist, ob das jemals eintreten wird“
Gleich zwei populären Annahmen erteilte Holper indes indirekt eine Absage: Signale für direkte Gespräche sende Wladimir Putin tatsächlich nicht, betont sie. Mindestens unklar sei aber auch, ob die Entwicklung auf den Schlachtfeldern den Weg zu einer Lösung ebnen könne.
Aktuell sei Russlands Verhandlungsbereitschaft „noch sehr, sehr gering ausgeprägt oder vor allem strategischer Natur“, erklärt die Wissenschaftlerin mit Blick auf Putins jüngste „Angebote“ – „man sagt also, man würde gerne verhandeln, aber nur unter der Bedingung, dass die Maximalforderungen erfüllt werden“. „Aus verhandlungstheoretischer Sicht ist das gar keine Verhandlungsbereitschaft, sondern die, eine Kapitulation zu akzeptieren“, konstatiert Holper.
Jenen ominösen Punkt zu erreichen, an dem den Gegnern der mögliche Gewinn am Verhandlungstisch größer scheint, als das auf dem Schlachtfeld Erzielbare, sei aber momentan ebenfalls „total schwer“ erreichbar, jedenfalls aus Sicht der Konfliktforschung. „Die Frage ist sogar, ob der Fall hier überhaupt jemals eintreten wird. Und bis dahin muss unglaubliche Waffenkraft verpulvert werden und werden unheimlich viele Menschen sterben, auf beiden Seiten“, warnt Holper. Dennoch sieht sie Hebel für die Diplomatie. Abseits von Putins Forderungen nach Grenzziehungen und Annexionen. Eine Schlüsselrolle könne dabei just den USA zukommen.
Ukraine-Krieg für Putin auch „Mittel zum Zweck“: Russland will „Anerkennung gewaltsam holen“
Die grundsätzliche Frage lautet Holper zufolge: „Wo bieten sich Ansatzpunkte in der Interessenslandschaft auf der russischen Seite, um die Situation auf anderen Wegen als militärisch in den Griff bekommen zu können?“ Ihre These lautet: „In jedem Fall möchte Russland als gleichberechtigter Player neben den USA, China und so weiter in einer multipolaren Weltordnung anerkannt sein.“ Dafür brauche Russland – jedenfalls theoretisch – weder die Eroberung der Ukraine, noch die befürchtete Einverleibung anderer Nachbarstaaten.
Meine news
„Die Aggression gegen die Ukraine ist – nicht nur, aber auch – das Mittel zum Zweck – um sich diese Anerkennung gewaltsam zu holen“, sagt die Expertin. Letztlich gehe es um „einen Platz am geopolitischen Tisch“. Historiker sprächen dabei oft vom „Trauma“ Russlands, „mit dem Zerfall der Sowjetunion aus der Riege dieser anerkannten Weltmächte ausgeschlossen worden zu sein“. Das treibe womöglich auch Putin: „Das Sich-in-aller-Härte-Behaupten gegen diese Demütigung soll in der KGB-Schule, aus der auch Herr Putin kommt, sehr tief eingeschrieben gewesen sein“, meint Holper. Stimme das, gehe es um Wiederherstellung des Selbstwertes als eine von mehreren Weltmächten, die mit anderen auf Augenhöhe verhandele.
Absurderweise habe Russland diesen Status, gemessen an der Realität auf dem internationalen Parkett, längst wieder, fügt die Konfliktforscherin hinzu. Hohe Kosten habe es freilich, diesen Status politisch und symbolisch anzuerkennen – ohne „faule Kompromisse“ mit Blick auf Russlands moralische und völkerrechtliche Verbrechen. Und ohne per se alle russischen Interessen zu erfüllen. Gesucht seien aber Mittel zur Konfliktlösung zu „einem geringeren Preis“.
„Cross-Deal“ als Lösung für den Ukraine-Krieg? „USA müssen lernen, Selbsteinhegung zu ertragen“
Eine Option dafür könne ein „Cross-Deal“ mit den USA im Zentrum sein: „Politische Einhegung der USA für militärische Einhegung Russlands“. Allerdings müsse Washington dafür lernen, „eine Art politischer Selbsteinhegung zu ertragen“, sagt Holper. Geopolitische Realität sei ohnehin bereits, dass die Vereinigten Staaten ihre Vormachtstellung verloren haben. Andererseits sei genau diese Anerkenntnis in den USA gerade kaum gewünscht und möglich; auch mit Blick auf den möglichen alten und neuen Präsidenten Donald Trump. „Aber es steht geopolitisch jetzt an. Es gilt also gute innenpolitische Narrative dafür anzulegen“, sagt die Konfliktforscherin.
Auswirkungen auf die Bündniszugehörigkeit der Ukraine müsse nicht haben, betont Holper. Für eine neutrale Ukraine sei es nach Russlands Überfall und dem Scheitern der Istanbuler Friedensgespräche ohnehin zu spät. „Mit Blick auf solche Cross-Deals kann es jetzt nur noch um die USA als Gegenspieler zu Russland, China und Iran gehen“, sagt Holper im Interview mit IPPEN.MEDIA – das komplette Gespräch lesen Sie hier.
So oder so werde es allerdings „sicherlich noch lange“ bis zu einer Lösung dauern. Holper hält auch den Ruf nach „Frieden“ für eine unglückliche Formulierung – „Koexistenz“ sei eine bessere Arbeitsvokabel. Hinter Pragmatismus stecke „eine extrem emotionale Angelegenheit“. „Auf beiden Seiten fühlt sich ein kollektives Ich auf unerträgliche Weise negiert, wenn man zu früh von Frieden redet“, warnt die Konfliktforscherin“ – beiden Seite gehe um Existenz und Gerechtigkeit. „Das klingt paradox für uns, weil wir denken, Frieden ist doch das Überleben. Aber viele Menschen auf beiden Seiten sehen das nicht so. Deshalb ist es besser, die Zielambitionen abzuschwächen.“ (fn)