„Fragen aufgeworfen“: Kursk-Offensive soll russische Eliten an Putin zweifeln lassen

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Unerschütterlicher Glaube? Der russische Präsident Wladimir Putin bekreuzigt sich am 20. August 2024 auf dem Gedenkfriedhof „Stadt der Engel“ in Beslan. Für viele Menschen gilt Putin als unantastbare Autorität. Aber Zweifel wachsen (Symbolfoto). © Wladimir Astapkowitsch/AFP

Als „bedeutenden taktischen Erfolg“ sehen Geheimdienstler die Kursk-Offensive der Ukraine. Und vermuten Risse im „System Putin“. Womöglich ein Irrtum.

Kursk – „Kursk sei ,ein bedeutender taktischer Erfolg‘ gewesen, der die Moral der Ukrainer gestärkt und Russlands Schwächen offengelegt habe“ – damit zitiert die Zeitung Financial Times (FT) den US-Amerikaner Bill Burns; der CIA-Direktor hatte sich während einer Veranstaltung der britischen Zeitung mit dem Leiter des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6, Richard Moore, ausgetauscht und öffentlich den Rückhalt Wladimir Putins unter russischen Eliten angezweifelt. Die ukrainische Initiative bei Kursk hätte demnach unter Russlands Oberschicht „Fragen aufgeworfen, wohin das alles führt“, wie er sagte.

Beide waren sich einig in der Vermutung, dass der Ukraine-Krieg zu Rissen in der Macht Wladimir Putins geführt habe, nur die Ausmaße seien kaum abzuschätzen. Gegenüber der Financial Times äußerten beide zwar, sie sähen keine Anzeichen dafür, dass Putins Macht lockerer geworden sei. „Aber es wäre falsch, ,eine feste Macht mit einer stabilen Macht zu verwechseln‘, sagte Moore, insbesondere da der Angriff auf Kursk ,den Krieg den einfachen Russen nahegebracht‘ habe“, wie das Blatt schreibt..

Kursk: Ein „kühner Schritt“ der Ukraine nach Russland mit noch zu klärenden Folgen

MI6-Chef Richard Moore hält insbesondere die Kursk-Offensive für einen „typisch kühnen und gewagten Schritt der Ukrainer“, allerdings sieht aktuell auch er offenbar keine Anzeichen dafür, dass die Ukraine das eroberte russische Territorium unbedingt werde halten können – für ihn sei zunächst eine Frage der Zeit, wie lange sich die Machtverhältnisse zwischen beiden Kriegsparteien so darstellen würden.

„Der Präsident ist ,auf dem Laufenden‘, verhält sich aber so, dass er immer sagen kann: Das habe ich nicht gewusst und so etwas habe ich nicht versprochen‘.“

„Der Überraschungserfolg ist vor allem ein Signal nach innen“, kommentiert Barbara Oertel. Die Osteuropa-Redakteurin der taz ist geneigt, denjenigen in der Ukraine zuzustimmen, die die „,Aktion Kursk‘“ als Durchhalteparole wahrnehmen“. Ihrer Meinung nach sei sie als solche auch nicht zu unterschätzen. Nach Meinung von FT-Autor John Paul Rathbone hätte die Kursk-Offensive der Ukraine gleichzeitig „Wladimir Putins Kriegsnarrativ einen Dämpfer verpasst“. Das scheint stark übertrieben zu sein. Gleichermaßen wie die Geheimdienst-Verantwortlichen halten Osteuropa-Beobachter Putins Sockel als Staatenlenker für krisenfest.

Aus Russland wird kaum Kritik zu Putins Person oder zum Krieg zu bekommen sein, vermutet Christian Caryl. Der Osteuropa-Journalist schreibt in Foreign Policy (FP) von der Angst der Russen vor der öffentlichen Äußerung ihrer Meinung. Allerdings hat der Krieg im Nachbarland über mögliche Krisen in der Innenpolitik offenbar hinweg geholfen: „Das Vertrauen der Russen in ihren Präsidenten sank im März 2020 auf ein 14-Jahres-Tief von 28,3 Prozent, stieg jedoch nach der groß angelegten Invasion der Ukraine wieder stark an“, berichtet FP über eine Umfrage durch das russische Institut VCIOM.

Säbelrasseln: Geheimdienst-Chef hält Putin für einen Tyrannen und Eskalationen für möglich

Nach Ansicht von Bill Burns würde sich Putin gegenüber dem Westen auch entsprechend dieses Rückhalts gebärden: „Putin ist ein Tyrann und wird von Zeit zu Zeit weiter mit dem Säbel rasseln“, sagte der CIA-Chef gegenüber der Financial Times. Putins Macht bestünde insofern, solange er den von ihm gewählten Weg der Demonstration von Stärke nach außen auch durch Ergebnisse untermauern könnte.

Dennoch würden sich die Russen gleichermaßen weiterhin um Putin scharen, betont Waleri Fjodorow, der Politologe und Chef des Meinungsforschungsinstituts VCIOM im Interview mit dem staatlichen Sender RBK: „So unterschiedlich diese Gruppen auch waren, alle, mit Ausnahme derjenigen, die weggezogen waren, schlossen sich um Wladimir Putin zusammen. Sie halten ihn nicht nur als Symbol, sondern auch als rettenden Anker fest. In der Extremsituation, in der sich Russland heute befindet, bleibt Putin ein Beschützer und Retter“, sagt er.

„Remaskulinisierung“ Russlands: Putin verkauft sich als ganzer Mann

Würde Sabine Fischer Recht behalten mit ihrer These, dann allerdings könne Kursk zwar als taktischer Coup gewertet werden, allerdings tauge er wenig dazu, an Putins Image zu kratzen. „Bei der Festigung der Putinschen Herrschaft seit den 2000er-Jahren spielte außerdem die ,Remaskulinisierung‘ Russlands eine entscheidende Rolle, schreibt die Politologin des deutschen Thinktank Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP). Sie stellt Putin dem ersten russischen Präsidenten gegenüber: Boris Jelzin.

Der hatte dem Riesenreich zwischen 1991 und 1999 von der über Jahrzehnte währenden kommunistischen Herrschaft auf den Weg in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft zu helfen versucht. Allerdings wurde ihm nachgesagt, er sei Alkoholiker gewesen. „Dieser entmaskulinisierte, infantilisierte Typ Mann der 1990er-Jahre hatte dem Zusammenbruch nichts entgegensetzen können, er verfiel dem Alkohol und wurde abhängig“, schreibt Fischer. Jelzins Nachfolger Wladimir Putin stelle nicht nur als Person einen Gegenentwurf dar, sondern scheint auch einen männlichen Archetyp personifiziert zu haben und eine Verschiebung hin zum neuen russischen Selbstverständnis.

„Echter Kerl“: Chauvinistisches Weltbild schwappt auch über Russlands Grenzen hinweg

Im Zentrum dieses Prozesses habe der „russkij mushik“ gestanden, wie Fischer ausführt, „ein ,echter Kerl‘, der Schluss machte mit der Schwäche des russischen Mannes in der späten Sowjetunion. Neben einem schärferen Wind in der Innenpolitik gegenüber vermeintlichen Minoritäten bezüglich beispielsweise der sexuellen Orientierung schwappte diese von Sabine Fischer als Chauvinismus bezeichnete Haltung auch auf die Außenpolitik über: Die Überhöhung des Selbstbildes des russischen Volkes scheint mit der Angst vor einem vermeintlich faschistischen Ausland oder zumindest einem Russland feindlich gesinnten Nachbarn einherzugehen.

Seit fast zehn Jahren reguliert Wladimir Putin das Management um sich herum neu, wie der Osteuropa-Forscher Hans-Henning Schröder 2017 für die Bundeszentrale für politische Bildung dargelegt hat. Demnach sei die Bevölkerung gespalten in Arm und Reich; während die Mehrheit der Bevölkerung ein Leben knapp oberhalb der Armutsgrenze führe, so Schröder, versuche die Mittelschicht ihre Position zu sichern; und eine Minderheit von Politikern, Beamten und Großunternehmern verwalte die Macht und Kapitalressourcen. Die politische Macht werde aus diesem Zirkel heraus auf Wladimir Putin hin konzentriert.

Verluste oder Gegenoffensiven: Putin schiebt die Niederlage auf das Militär ab

Der Präsident habe an der Spitze des Regimes „eine unerreichbare Etage errichtet“, zitiert Schröder den Praktiker Gleb Pawlowskij: „Der Präsident ist ,auf dem Laufenden‘, verhält sich aber so, dass er immer sagen kann: Das habe ich nicht gewusst und so etwas habe ich nicht versprochen‘“, erläutert der Politikberater, der sowohl für Jelzin wie Putin gearbeitet habe. Ihm zufolge würden Entscheidungen des Kreml jeweils nur von bedingtem Charakter sein. Umgekehrt kann sich Putin also auch von Fehlentscheidungen freisprechen, beziehungsweise die Verantwortung für Fehlentwicklungen wie der Kursk-Offensive delegieren.

Putin schiebt die Niederlage auf das Militär ab, wie die Washington Post berichtet: Der Kreml habe stillschweigend einer umfassenden Säuberung im Verteidigungsministerium zugestimmt – der Vorwurf lautet häufig: Korruption oder Betrug. Festnahmen ziehen sich wohl auch hinunter bis in niedrigere Offiziersränge. Entscheidend für seinen Machterhalt seien aber die Eliten, behauptet Ekaterina Schulmann. Der Wissenschaftlerin vom Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin zufolge stellten sich die Eliten in Russland aber wohl tatsächlich längst die Frage, ob der alte Mann noch eine Bereicherung oder bereits eine Belastung sei. Offenbar beließen sie aber den Status quo, weil ihnen ein Machtkampf in Moskau nicht geheuer wäre.

Das wiederum stärkt die These der beiden westlichen Geheimdienstler. Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) sieht vor allem in der passiven Reaktion Putins, dass die Nation weder nationale Solidarität noch Gemeinschaftsgefühlt böte. F.A.Z.-Autor Martin Schulze Wessel spricht sogar aktuell von einem „Land der Gleichgültigen“. (KaHin)

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