Sie war Hauptermittlerin in den CumEx-Fällen: Mittlerweile hat Anne Brorhilker den Staatsdienst quittiert. In ihrem Buch rechnet sie mit dem Finanzsystem ab.
Berlin – Lange wurde Anne Brorhilker unterschätzt. Das schildert die 52-Jährige in ihrem neuen Buch „Cum/Ex, Milliarden und Moral: Warum sich der Kampf gegen Wirtschaftskriminalität lohnt“. Dort beschreibt sie, wie sie sich das Vorurteil der „jungen, naiven Anwältin“ zu Nutze gemacht hat, dem bis dato größten Steuerbetrug in Deutschland auf die Schliche kam und Bänker und Berater aus ihren gläsernen Hochhäusern scheuchte. Mit ihren Ermittlungen stieß sie internationale Untersuchungen im CumEx-Skandal an. Allein in Deutschland wurden zwischen 2001 und 2011 mindestens zehn Milliarden Euro am Fiskus vorbeigeschmuggelt. Vor Gericht wurden viele der Täter verurteilt. Von der Schadenssumme konnte bisher nur ein Bruchteil zurückgeholt werden.
Ihr Beamtenverhältnis als Oberstaatsanwältin hat sie mittlerweile beendet und arbeitet stattdessen als Co-Geschäftsführerin im Verein Finanzwende. Im Interview mit der Frankfurter Rundschau von Ippen.Media erklärt sie, wieso Unwissenheit den Tätern in die Hände spielt, was Steuerbetrug mit geschlossenen Schwimmbädern zu tun hat und wie weiterhin Milliarden Euro an Steuergeldern hinterzogen werden.
Frau Brorhilker, eins der zentralen Themen in Ihrem Buch ist „Aufklärung“. Nicht nur die Aufklärung des CumEx-Falls – sondern die der Zivilgesellschaft. Wieso gestaltet sich das so mühsam?
Themen wie Steuern und Finanzpolitik wirken auf viele erstmal abschreckend. Weil man sich wenig damit beschäftigt, fühlen sich viele unsicher. Das spielt den Tätern in die Hände, die sich ihrerseits gerne auf die vermeintliche Kompliziertheit berufen. Sie sagen „das können eigentlich nur Steuerjuristen verstehen“ und wollen auf diese Weise die Unsicherheit verstärken und Diskussionen verhindern. Diese Erzählungen der Kriminellen verfangen sich an vielen verschiedenen Stellen: auch in den Medien.
Auf Kosten ehrlicher Steuerzahler: So funktioniert CumCum und so CumEx
Können Sie CumEx und CumCum für Nicht-Experten einmal kurz erklären?
CumEx und CumCum sind sogenannte Tax Trades, also Geschäfte, deren Profite allein aus öffentlichen Kassen stammen. Es geht konkret darum, die Kapitalertragssteuer zu umgehen oder sich diese mehrfach erstatten zu lassen. Einmal im Jahr schütten die Unternehmen in Deutschland Dividende aus – darauf fällt die Steuer an. Etwa zwei Drittel deutscher Aktien werden von Steuerausländern gehalten. Diese müssten die Steuern zahlen. Um dem zu entgehen, verschieben sie die Aktien stattdessen auf jemanden, der sie nicht zahlen muss, z. B. deutsche Investmentfonds oder Banken. Diese dürfen aber nicht über die Aktien verfügen und müssen sie anschließend sofort an den eigentlichen ausländischen Besitzer zurückgeben. Das nennt man dann CumCum-Geschäft. Das ist Schritt eins.
Und Schritt zwei?
Da die Aktien jetzt sowieso schon mal in Deutschland sind, sind die Akteure auf die Idee gekommen, sie noch mal zu nutzen: Nachdem die Aktien also im Zuge von CumCum dem Finanzamt bereits einmal präsentiert wurden, werden sie sie über einen Leerverkäufer zum CumEx-Erwerber gegeben. Dabei handelt es sich wieder um eine steuerbefreite Entität, die sich dann ihrerseits nochmal ans Finanzamt wendet und sagt: „Ich bin ja steuerbefreit, ich hätte gerne die Kapitalertragsteuer zurück“. Man kann das sogar öfter machen, das haben uns die Insider bestätigt. Die Finanzämter kennen die Hintergründe nicht und sind kaum in der Lage, den Weg der Aktien nachzuverfolgen. Wenn die Steuern in Deutschland einkassiert wurden, dann werden die Aktien wieder zurück ins Ausland gegeben und bleiben den Rest des Jahres bei ihrem eigentlichen Besitzer liegen.
Wir sprechen hier von mehreren Milliarden Euro, die dem Staat abgezogen wurden. Wieso ist die Gesellschaft nicht auf den Barrikaden?
Ich habe schon den Eindruck, dass das viele Menschen in Deutschland empört. Aber in der politischen Diskussion ist das Thema noch nicht richtig angekommen. Geschätzt 100 Milliarden im Jahr gehen uns allein durch Steuerhinterziehung verloren. Die Auswirkungen spüren wir jeden Tag, wenn wir sehen, dass Schwimmbäder geschlossen sind, dass die Infrastruktur bröckelt, dass die Bahn nicht fährt. Wir bringen das nur meist nicht mit fehlender Verfolgung von Steuerhinterziehung in Verbindung.
Finanzbehörden sollen Stellen kürzen, darunter könnte die Aufklärung leiden. Kann sich Deutschland diese Schwachstelle erlauben?
Wenn jetzt schon das operative Personal knapp ist und man streicht noch weitere Stellen, dann wird es noch seltener gelingen als bisher. Das Gegenteil müsste passieren, wir benötigen mehr Personal auf der Arbeitsebene. Da Behörden insgesamt gesehen eigentlich gar nicht so wenig Personal haben, sollte auch über die Binnenorganisation von Behörden nachgedacht werden. Dort wo die eigentliche Arbeit gemacht wird, wo Betriebsprüfer in die Banken und Unternehmen gehen oder wo Staatsanwälte die Ermittlungen führen, genau da fehlt es an Mitarbeitenden. Die Mehrheit des Personals in den Verwaltungen „lenkt und leitet“, das sollte man überdenken. Außerdem existieren noch andere strukturelle Probleme wie mangelnde Vernetzung der Behörden untereinander und veraltete Technik. Das sind Muster, aus denen wir herausmüssen.
Etwas, das den deutschen Behörden schwerfällt?
Zu mir wurde oft gesagt: Warum macht Sie denn alles anders? Das wurde häufig als „Extrawurst“ verstanden. Die Antwort ist ganz einfach: weil das für den Erfolg wichtig war. Die CumEx-Verfahren unterschieden sich in vielerlei Hinsicht von Verfahren gegen Ladendiebe und erforderten daher auch eine andere Ermittlungsorganisation und -methodik. Dieses Denken, dass immer alles ganz genau so gemacht wird, wie es immer schon gemacht wurde, das verhindert manchmal Weiterentwicklung.
Welches Detail vom Fall „CumEx“ hat auf Sie denn den stärksten Eindruck hinterlassen?
Was diese Tax Trades für Schäden angerichtet haben – über Jahrzehnte. Dass sich eine ganze Industrie gebildet hat, mit hochprofessionellen Akteuren aus Banken und Beratungsgesellschaften. Was da an Aufwand betrieben worden ist, das finde ich nach wie vor unfassbar. Und der zweite Punkt, der mich auch wirklich überrascht hat: In all den vielen E-Mails, die sichergestellt und ausgewertet wurden, konnte ich so gut wie nie Skrupel erkennen. Ob das Ganze jetzt rechtlich erlaubt war oder nicht, daran war so gut wie niemand interessiert. Relevant war nur, ob die Behörden die Taten wohl entdeckten würden und was es dann kosten würde, die Verfahren schnell wieder zu beenden. Meist waren sich die Akteure einig, dass diese Risiken gerade im deutschen föderalistischen Behördengeflecht sehr gering sind.
Aber das Steuersystem wird weiter von dieser Finanzelite ausgenutzt?
Wirtschaftskriminalität wird von der Gesellschaft immer noch häufig als Kavaliersdelikt gesehen. Besonders Steuerhinterziehung. CumEx war kein Ausnutzen von gesetzlichen Lücken, sondern ein bewusstes Hinwegsetzen über Gesetze in der Annahme, dass Behörden zu schwach aufgestellt sind, die Taten zu entdecken und zu ahnden. Es wäre naiv anzunehmen, dass diese hochprofitablen Geschäfte, die meistens nicht auffallen, plötzlich eingestellt werden. Warum sollten sie? An den Rahmenbedingungen hat sich nichts geändert. Der Staat ist nach wie vor schwach aufgestellt, das heißt das Entdeckungsrisiko ist nach wie vor gering. Gleichzeitig sind die Profite enorm und völlig konjunkturunabhängig.
Würden Sie den Fall Cum-Ex trotzdem in seiner Gesamtheit als Erfolgsgeschichte betrachten?
Ich finde schon, dass die CumEx-Aufklärung insofern erfolgreich war, weil sie gezeigt hat, dass der Staat sich wehren kann, wenn er will. Phasenweise hatte ich auch aktive Unterstützung durch den damaligen NRW-Justizminister Biesenbach, der sehr viel Personal zur Verfügung stellte und sich auch mit den anderen Ministern abgestimmt hat. Mit diesen neuen Polizeibeamten und Steuerfahndern waren wir überhaupt erst in der Lage, die Banken zu durchsuchen. Da zeigt, dass sich das natürlich auch wiederholen lässt. Diesen Druck müssen wir aus der Zivilgesellschaft jetzt auf die zuständigen Fachminister machen, dass sie ihre Behörden so vernünftig ausstatten und nicht zulassen, dass sich eine ganze Branche an unseren Steuergeldern vergreift. (Interview geführt von: Lisa Gilz)