Druck aus China: So will die EU ihre Industrie vor dem „langsamen Todeskampf“ retten

Deutschlands energieintensive Industrien stehen vor einer existenziellen Bewährungsprobe. Mehr denn je drohen sie im globalen Wettbewerb zurückzufallen – aufgrund höherer Energiepreise in Europa, unfair subventionierter Konkurrenz in China und der US-Zölle. Bereits vor einem Jahr warnte Mario Draghi, der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank, vor einer „langsamen Agonie“, also der letzte Todeskampf. 

Die „langsame Agonie“ der Industrie

Diese Agonie entsteht nicht aufgrund von mangelndem Potenzial oder Klarheit, wie man den wirtschaftlichen Aufschwung gestalten könnte. Europäische Unternehmen haben Technologien und Materialien entwickelt, die in einer kohlenstoffarmen Wirtschaft hoch wettbewerbsfähig sind. Deutschland ist in vielen dieser Innovationsfelder ein Vorreiter. Einige der weltweit führenden Wärmepumpenhersteller wie Stiebel Eltron und Bosch Thermotechnik sind hier ansässig. 

Bis 2030 sollen 400 GWh an Batteriefertigungskapazität entstehen – damit läge Deutschland weltweit hinter den USA und China auf dem dritten Platz. Ebenfalls entstehen hier die meisten Projekte für kohlenstoffarme Stahlerzeugung in der EU, darunter ein Stahlwerk von Salzgitter, das bis 2027 dekarbonisiert werden soll. Expertise, Kapazitäten und qualifizierte Fachkräfte sind vorhanden – doch politische Unsicherheit bremst Investitionen.

Die Agonie wurzelt also in der unsicheren Nachfrage nach kohlenstoffarmen Produkten. Genau diese Sicherheit braucht die deutsche Industrie, um massiv in die Herstellung strategischer Technologien und Materialien zu investieren. Manche große Unternehmen haben geplante Investitionen bereits gestrichen, darunter ArcelorMittal mit seinen kohlenstoffarmen Stahlwerken in Bremen und Brandenburg. 

Deutschlands Industrie unter Druck - und doch erfolgreich

Andere fahren Produktion und Belegschaft zurück, wie Bosch in Baden-Württemberg. Diese Entscheidungen wirken sich spürbar auf regionale Wirtschaftsräume und europäische Wertschöpfungsketten aus. Daher sollten Investitionen nicht weiter aufgeschoben werden, sonst würde sich die industrielle Krise Deutschlands und Europas nur weiter verschärfen. Eine europäische Industriepolitik kann hingegen für mehr Sicherheit für Nachfrage und Investitionen und somit für ausgewogene Bedingungen im globalen Wettbewerb sorgen.

Jetzt ist der Moment, die „langsame Agonie“ zu überwinden und das volle Marktpotenzial der EU zu nutzen. Deutsche Unternehmen sind hervorragend positioniert, um sich langfristige Wettbewerbsvorteile bei innovativen Cleantech-Produkten und klimaneutralen Materialien zu sichern. Der Schlüssel dazu liegt in der europäischen Industriepolitik – konkret im sogenannten „Industrial Accelerator Act“ (ein Gesetz zur Beschleunigung der Industrietransformation), das die Europäische Kommission am 10. Dezember vorlegen will.

Europas Chance für Planungssicherheit und Wettbewerb

Wenn es gut gestaltet ist, kann dieses Gesetz zweierlei leisten: Planungssicherheit schaffen und faire internationale Wettbewerbsbedingungen für Cleantech-Produkte und klimaneutrale Materialien herstellen. Sogenannte „Leitmärkte“ können eine verlässliche Nachfrage für strategisch wichtige Sektoren schaffen – etwa für Stahl und andere Grundstoffe, Windkraft und Batterien. Deutschland hat dafür auf nationaler Ebene einen Standard für einen Leitmarkt für klimaneutrale Produkte entwickelt, der Vorreiter durch einen Marktanteil für kohlenstoffarme Produkte belohnen könnte. 

Doch dieser Standard kann nur wirken, wenn er EU-Präferenzkriterien enthält, die die Produktion dieser Güter in Europa selbst stärken. Andernfalls würde man zwar das richtige Problem benennen, aber die wirksame Lösung verweigern. Denn ohne solche Vorgaben riskiert die EU, die Nachfrage nach günstigeren – weil subventionierten – chinesischen Cleantech-Produkten zu erhöhen, statt europäische Wertschöpfungsketten zu stärken. 

Darüber hinaus kann die EU „Made in Europe“ als Kriterium für öffentliche Fördermittel verankern: Finanzinstrumente wie Subventionen, Förderprogramme und öffentliche Beschaffung können gezielt innovative Produzenten in Europa unterstützen. Das wäre ein klares Signal, dass sich die EU auf die neue geoökonomische Realität einstellt – eine Realität, in der viele Handelspartner längst protektionistische Maßnahmen ergriffen haben und ihre Industrie mithilfe ihrer Handelspolitik bevorzugt behandeln.

Warum die EU die industrielle Zukunft sichern muss

Deutschlands Leitmarkt-Standard gewinnt zunehmend Unterstützung in Europa. Frankreich, Italien, Österreich, Polen, Spanien und mehrere weitere Mitgliedstaaten haben sich angeschlossen – denn die volle Wirkung entfaltet dieser Standard nur auf europäischer Ebene. Mit dem Industrial Accelerator Act hat die Europäische Kommission nun die Chance, diesen Ruf zu beantworten und die „langsame Agonie“ tatsächlich zu beenden.

Für die Bundesregierung und die deutsche Industrie ist dieses Gesetz eine zentrale Chance. Nachdem Berlin zahlreiche europäische Partner hinter den Leitmarkt-Standard versammelt hat, kann es nun EU-Recht werden – und damit hohe Industriestandards sichern, den globalen Wettbewerb fairer gestalten und die industrielle Zukunft Europas und Deutschlands festigen. Die Kommission kann der europäischen Industrie aus ihrer „langsamen Agonie“ helfen und das Fundament für nachhaltiges Wachstum in den kommenden Jahrzehnten legen. Doch das Zeitfenster ist klein – und Europas Industrie kann sich keine weiteren Verzögerungen leisten.

Linda Kalcher ist Gründungsdirektorin von Strategic Perspectives. Zuvor leitete sie den Bereich EU-Institutionen bei der European Climate Foundation und arbeitete im Europäischen Parlament. 2021 war sie Senior Adviser im Climate Action Team des UN-Generalsekretärs António Guterres.

Tristan Beucler ist Industrieanalyst bei Strategic Perspectives. Zuvor war er Policy Officer bei Cleantech for France, nach Traineeships im Europäischen Parlament und im Auswärtigen Amt.