Die EU könnte der Ukraine russische Vermögen als Reparationsdarlehen freigeben. Damit könnte die Union nicht nur Putins Kalkül ändern.
Brüssel/Andelsbuch – Ende dieser Woche steht eine wegweisende Entscheidung für die Ukraine und die europäische Sicherheitsarchitektur an: Die EU könnte das in Belgien beim Finanzdienstleister Euroclear eingefrorene russische Vermögen als Reparationsdarlehen der Ukraine zur Verfügung stellen. Das Außergewöhnliche bei dieser Entscheidung: Europa kann in diesem speziellen Fall eine eigenständige Entscheidung treffen – unabhängig von den USA.
Weil die EU-Mitglieder ihre militärische Stärke erst aufbauen, besitzt Europa als sicherheitspolitischer Akteur auf der Weltbühne nur eine untergeordnete Rolle. Aber: Mit dem russischen Vermögen hat sie ein machtvolles Druckmittel gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Mit der Freigabe des Geldes an die Ukraine würde die EU „Stärke demonstrieren und Handlungsfähigkeit beweisen“, sagte der EU-Abgeordnete Tobias Cremer (SPD) dem Münchner Merkur von Ippen.Media.
Russisches Vermögen: EU will Putins Kalkül ändern
„Wir sollten diese Vermögenswerte endlich als Hebel für den Frieden nutzen, um das Kalkül von Putin zu ändern. Putin zögert einen Frieden ja auch deshalb immer weiter hinaus, weil er denkt, die Zeit arbeitet für ihn“, meint das Mitglied im EU-Sicherheitsausschuss.
Putins Kalkül könne die EU ändern, indem sie dem Kremlchef zeigt, dass eine Verlängerung des Krieges nicht in Russlands Interesse ist. Das Instrument dafür seien die eingefrorenen russischen Vermögen. „Indem wir diese nutzen, um einen Reparationenkredit für die Ukraine zu schaffen, wäre Putin damit klar, dass die Ukraine über Jahre versorgt und verteidigungsfähig bleibt“, sagte Cremer. Moskau hätte erst wieder Zugriff auf sein Geld, wenn es nach einem Ende des Krieges Reparationen an die Ukraine zahlt.
Der EU-Abgeordnete David McAllister (CDU) stimmt zu: „Bundeskanzler Friedrich Merz hat mit den Ergebnissen des Gipfeltreffens in Berlin zu Beginn dieser Woche dafür gesorgt, dass Europa wieder sichtbar und substanziell in den diplomatischen Prozess rund um einen tragfähigen Frieden in und für die Ukraine eingebunden ist. Dieser Fortschritt sollte nun mit einer Einigung im Hinblick auf die Nutzung russischer Vermögenswerte aktiv untermauert – und nicht untergraben – werden“, sagte der Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses unserer Redaktion.
Belgien blockiert EU-Freigabe der russischen Vermögen an die Ukraine
Die Nutzung eingefrorener russischer Staatsvermögen dürfe keine rechtliche Grauzone schaffen und keine Risiken für die Stabilität der europäischen Finanz- und Rechtsordnung auslösen. Die EU-Entscheidung solle nicht an nationalen Vorbehalten scheitern, wenn ein rechtssicherer europäischer Rahmen möglich ist. „Jetzt ist entscheidend, dass die Europäische Union zu einer gemeinsamen, tragfähigen Linie findet“, sagte McAllister.
Bislang blockiert Belgiens Regierung den EU-Plan – mit dem Verweis auf rechtliche und finanzielle Risiken. Premierminister Bart De Wever sah unter anderem die Gefahren, dass Russland Vergeltung gegen europäische Privatpersonen und Unternehmen ausübt oder Enteignungen in Russland vornimmt.
Vor der Entscheidung nannte der belgische Regierungschef drei Voraussetzungen, damit er dem Vorhaben zustimmt: Es müsse garantiert sein, dass eine Vergemeinschaftung aller möglichen Risiken erfolgt. Außerdem müssten ab dem ersten Moment der Umsetzung des Plans ausreichend finanzielle Garantien bestehen, um potenziellen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen.
EU-Politiker Cremer zeigt Verständnis für Belgien
Und De Wever forderte einen umfassenden Liquiditäts- und Risikoschutz für alle durch den Plan betroffene Bürger oder Unternehmen und eine Beteiligung aller anderen EU-Länder, in denen ebenfalls noch Vermögenswerte der russischen Zentralbank eingefrorenen wurden. Dazu zählen neben Deutschland nach Angaben der EU-Kommission Frankreich, Schweden und Zypern.
Cremer zeigte Verständnis für De Wevers „valide Sorgen“. Allerdings höre er von Bankern und Finanzexperten, „dass die Märkte eine solche Nutzung der russischen Vermögen bereits eingepreist hätten, wodurch der Finanzstandort Europa keine schwerwiegenden Konsequenzen befürchten müsste“, sagte der Sozialdemokrat. Nach seinen Angaben gilt das Szenario – dass Russland Belgien erfolgreich verklagt – als „extrem unwahrscheinlich“. Darüber seien die Rechtsberater in der EU und die Juristen im Auswärtigen Amt einig.
Laut EU-Kreisen stand nie zur Debatte, die russischen Vermögen zu beschlagnahmen. Einerseits bestehen juristische Bedenken, ob dies nicht gegen das Völkerrecht verstoßen würde. Andererseits solle das Vertrauen in den Finanzstandort Europa und in den Euro als Reservewährung nicht verloren gehen, hieß es.
Russische Zentralbank verklagt Euroclear
Mittlerweile hat die russische Zentralbank nach eigenen Angaben Euroclear vor einem Moskauer Gericht verklagt. Der Vorwurf: Der russischen Zentralbank sei durch Euroclears Vorgehen ein Schaden entstanden, da sie nicht über Gelder und Wertpapiere verfügen könne, die ihr gehörten. Die Zentralbank bezeichnet zudem „Mechanismen zur direkten oder indirekten Nutzung“ ihrer Vermögenswerte sowie jede andere Form deren unbefugten Nutzung als illegal und dem Völkerrecht widersprechend.
Neben Belgien hatten auch andere EU-Mitglieder den geplanten Umgang mit dem russischen Vermögen kritisiert. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán bezeichnete die Pläne, die Mittel auf unbestimmte Zeit per Mehrheitsentscheidung festzusetzen, als rechtswidrig. Mit der Mehrheitsentscheidung hatten die Europäische Union verhindert, dass moskaufreundliche Staaten wie Ungarn und die Slowakei durch ein Veto das geplante Vorgehen blockieren. (Quellen: Pressedienst Europäische Kommission, Reuters, eigene Recherche) (Jan-Frederik Wendt)