Alternde Gesellschaft: Immer mehr Menschen brauchen eine gesetzliche Betreuung

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Wollen das Thema Betreuung ins öffentliche Bewusstsein rücken: die Psychologen Maria Widmann und Sebastian Schmidl-Wolf vor dem Sitz des Betreuungsvereins Oberland in Miesbach. © THOMAS PLETTENBERG

Ein Verein unterstützt ehrenamtliche Betreuer durch Beratung und Vernetzung. Spenden aus der Aktion „Leser helfen Lesern“ sollen im zugutekommen.

Die Gesellschaft altert. Damit steigt die Zahl der Demenzkranken – und der Bedarf an rechtlicher Betreuung. Immer öfter müssen deshalb Angehörige und Ehrenamtliche die Angelegenheiten Betroffener regeln, denn Berufsbetreuer sind rar. Vor dem Hintergrund hat der Psychologe Sebastian Schmidl-Wolf (37) im Juni 2025 den gemeinnützigen Verein Betreuung Oberland mit Sitz in Miesbach gegründet, der inzwischen fünf Mitarbeiter hat, darunter die Psychologin Maria Widmann (26). Der Verein, der aktuell 72 Fälle, darunter auch psychisch Kranke, betreut, berät und begleitet Ehrenamtliche, damit sie sich der Aufgabe gewachsen fühlen. Im Interview erzählen Schmidl-Wolf und Widmann von ihrem Engagement, dem heuer Spenden aus der Aktion „Leser helfen Lesern“ zugutekommen.

Herr Schmidl-Wolf, Sie arbeiten seit vielen Jahren als gesetzlicher Betreuer. Wie kamen Sie auf die Idee, einen Verein zu gründen?

Sebastian Schmidl-Wolf: Die Idee war, eine Gesellschaftsform zu finden, die es Betreuern ermöglicht, zusammenzuarbeiten. Damit man sich gegenseitig vertreten und mit den jeweiligen Kompetenzen die Betreuten besser unterstützen kann. Darüber hinaus können wir als gemeinnütziger Betreuungsverein ehrenamtlichen Betreuern und Betreuerinnen bei ihrer Arbeit zur Seite stehen.

Wobei genau?

Ehrenamtliche Betreuer brauchen keine Ausbildung, sondern müssen vom Gericht als geeignet angesehen werden. In vielen Fällen handelt es sich bei ihnen um Familienangehörige. Wir dagegen kennen viele Situationen und Probleme, weil wir das schon sehr lange machen und bereits mehr als 100 Fälle betreut haben. Mit unserer Expertise können wir dafür sorgen, dass die Betreuung so gut wie möglich läuft. Das Ziel ist ja immer, das Bestmögliche für die betreute Person zu erreichen. Manchmal weiß man aber nicht genau, wie das funktioniert, und da helfen wir.

Ist gesetzliche Betreuung gleichbedeutend mit Vormundschaft?

Nein, da gibt es Unterschiede. Bei der gesetzlichen Betreuung bekommen wir vom Gericht Aufgabenkreise zugewiesen, in denen die Person Unterstützung benötigt. Das können Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Gesundheitsfürsorge oder Behördenangelegenheiten sein. So unterschiedlich wie die Leben von Menschen sind, so unterschiedlich sind auch die Betreuungen. Drei Sachen bilden in der Regel die Basis: Die Gesundheit, die Wohnung und die Finanzen. Die müssen passen, sonst wird‘s schwierig. Dann erst kommen Aufgaben dazu, wie eine sinnvolle Tagesbeschäftigung für den Betreuten zu finden oder soziale Kontakte zu unterstützen.

Wenden sich Menschen, für die das Gericht eine Betreuungsbedürftigkeit feststellt, direkt an Ihren Verein?

Der Idealfall ist, die Menschen kommen zu uns in einer Situation, in der keine Betreuung notwendig ist, um vorbereitet zu sein für die Situation, in der sie notwendig ist. Sie können dann in einer Betreuungsverfügung festlegen, dass sie vom Betreuungsverein betreut werden wollen. Nicht selten kommen aber Angehörige zu uns, weil sie eine gesetzliche Betreuung wollen. Da ist die Situation so komplex oder die Konflikte sind so stark ausgeprägt, dass sie sich überfordert fühlen und einen professionellen Betreuer ins Boot holen wollen.

Sind die ehrenamtlichen Betreuer, die sie beraten, Mitglied im Verein?

Maria Widmann: Die Möglichkeit gibt es. Aber dadurch, dass wir ein noch sehr junger Verein sind, ist noch keiner Mitglied geworden. Das hat auch mit Sichtbarkeit zu tun. Viele ehrenamtliche Betreuer im Landkreis wissen noch gar nicht, dass es uns gibt. Wir hoffen natürlich, durch unsere präsente Position hier am Marktplatz und unseren Internetauftritt ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Damit ehrenamtliche Betreuer sehen: Da gibt‘s ja jemanden, an den ich mich wenden kann. Damit sie sich sicherer und unterstützter fühlen.
Sebastian Schmidl-Wolf: Wir glauben, dass das ein drängendes gesellschaftliches Problem ist. Durch den demographischen Wandel wird es immer mehr ältere Menschen geben, mit weniger Jungen, die sich um die Älteren kümmern können. Gleichzeitig haben wir durch den demographischen Wandel eine Belastung der Sozialsysteme. Das heißt, das Ehrenamt wird wichtiger werden.
Maria Widmann: Von unserer Position am Markplatz erhoffen wir uns auch, auf unser Beratungsangebot aufmerksam zu machen. Vielleicht informieren sich die Menschen dann über Vorsorge. Etwa über eine Patientenverfügung. Oder: Was mache ich, wenn ich alt bin? Wer kümmert sich, wer regelt meine Angelegenheiten?

Wie läuft eine Beratung ab?

Wir bieten Termine an, die meistens eine Stunde dauern. Wir schauen uns die individuelle Situation an. Manchmal kommen zum Beispiel Mutter und Tochter gemeinsam. Da heißt es dann, die Tochter soll mal die Vorsorge übernehmen im Fall der Fälle. Den Wünschen entsprechend beraten wir dann.

Ab welchem Alter sollte man das in Anspruch nehmen?

Sebastian Schmidl-Wolf: Wenn es um eine Patientenverfügung geht und man noch keine hat, dann jetzt. Die Möglichkeit, beispielsweise durch einen Unfall in die Situation zu kommen, dass man sich nicht mehr äußern kann, besteht ja immer. Hat man schon mal verschriftlicht, was dann passieren soll, macht man es seinen Angehörigen und den Behandlern deutlich leichter. Mit dieser Argumentation kann man auch an die Vorsorgevollmacht herangehen. Damit legt man verbindlich fest, wer einen in wichtigen Angelegenheiten vertreten darf.

Wie weit reichen die Befugnisse des Betreuers?

Sie können sehr weit gehen. Bei der Vermögenssorge mit Einwilligungsvorbehalt zum Beispiel ist die Geschäftsfähigkeit des Betreuten aufgehoben. Da teilen wir den Betreuten Taschengeld ein, auch wenn sie schon längst erwachsen sind. Das ist unser Job, um einer Selbstschädigung vorzubeugen. Es kommt auch vor, dass wir Unterbringungen durchs Gericht beantragen, wenn die Person fremd- oder selbstgefährdend ist. Das geht also so weit, dass Menschen auf unseren Antrag hin in ihrer Freiheit eingeschränkt werden.

Da haben Sie eine große Verantwortung...

Wir beide sind Psychologen, zwei weitere Mitarbeiterinnen Sozialarbeiterinnen, sodass wir aufgrund unserer Ausbildung Situationen gut bewerten können. Dazu kommt die Zusammenarbeit im Team. Und schließlich die Erfahrung. Mit diesem Mix kriegen wir das ganz gut hin.
Maria Widmann: Wir bauen uns außerdem ein System aus Helfern um die Betreuten herum auf. Viele leben ja in betreuten Wohnformen oder therapeutischen Wohngemeinschaften. Da sind Menschen, die die Betreuten teilweise besser kennen, als wir, weil sie täglichen Kontakt haben. Mit ihnen tauschen wir uns regelmäßig aus. So können wir zumeist Entscheidungen treffen, die im Sinne unserer Betreuten sind.

Persönliche Gespräche: Betroffene werden individuell beraten.
Persönliche Gespräche: Betroffene werden individuell beraten. © THOMAS PLETTENBERG