In Berlin ringen Selenskyj und EU-Vertreter um eine Lösung im Ukraine-Krieg. Eine Expertin sieht Kiew in einer „schwierigen Situation“. Eine Analyse.
Tag zwei der Ukraine-Verhandlungen in Berlin: Nach Gesprächen zwischen Vertretern der Ukraine und der USA am Sonntag stehen am Montag die Friedensbemühungen der Europäer im Zentrum des Berlin-Besuchs des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Im Bundeskanzleramt sprechen am Abend Kanzler Friedrich Merz und Selenskyj unter anderem mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem britischen Premierminister Keir Starmer sowie NATO-Generalsekretär Mark Rutte über Wege zu einem Ende des Ukraine-Kriegs.
Im Vorfeld des Treffens im Kanzleramt warnt die ukrainische Analystin Nataliya Butyrska vor zu hohen Erwartungen. „Ich gehe nicht davon aus, dass das aktuelle Treffen zu greifbaren Ergebnissen führt. Es handelt sich lediglich um Vorarbeiten für eine mögliche Vereinbarung in der Zukunft“, sagte Butyrska, die an der Kiewer Denkfabrik New Europe Center forscht, dem Münchner Merkur von Ippen.Media. Allerdings wachse der Druck auf den ukrainischen Präsidenten – sowohl durch Russland, dessen Militär die Ukraine mit unverminderter Härte angreift, als auch durch die USA, die auf eine schnelle Einigung drängen. „Die Ukraine befindet sich derzeit in einer sehr schwierigen Situation“, so Butyrska. Umso wichtiger sei deshalb die Unterstützung durch die europäischen Verbündeten Kiews.
Selenskyj in Berlin: „Russland sieht kein anderes Szenario für die Ukraine in Betracht als die Kapitulation“
Der ukrainische Präsident stehe in Berlin „vor der schwierigen Aufgabe, seine Bereitschaft zu Kompromissen im Friedensprozess zu demonstrieren, ohne dabei rote Linien zu überschreiten, die die Souveränität der Ukraine und die Existenz des Staates gefährden würden“, sagt Butyrska.
Den Europäern geht es in Berlin darum, zusammen mit der Ukraine einen tragfähigen Kompromiss zu erarbeiten, der zwar einerseits deutliche Zugeständnisse von ukrainischer Seite erfordern dürfte, dabei aber nicht so weit geht wie ein ursprünglicher, von den USA vor wenigen Wochen vorgestellter 28-Punkte-Plan. In dem Dokument, das sich für viele Beobachter wie eine Wunschliste des Kremls las, wurden von der Ukraine unter anderem weitgehende Gebietsabtretungen gefordert. Mittlerweile wurde der Plan überarbeitet und umfasst nun noch 20 Punkte, wobei der genaue Wortlaut noch nicht öffentlich bekannt ist.
Selenskyj und seine Berater hatten sich am Sonntag mit der US-Delegation um den Sondergesandten Steve Witkoff und Trumps Schwiegersohn Jared Kushner getroffen. Was dabei konkret besprochen wurde, ist noch unklar, Witkoff sprach aber von „großen Fortschritten“. Butyrska sieht den ukrainischen Präsidenten bei den Verhandlungen mit den USA von zwei Seiten unter Druck: einerseits „durch den Wunsch der amerikanischen Seite, schnell zu einer Einigung zu kommen, sowie durch Drohungen der Amerikaner, andernfalls ihre Waffenlieferungen einzustellen“. Auf der anderen Seite laufe Selenskyj Gefahr, „in eine Falle Russlands zu tappen, wenn er die Bedingungen des derzeit von den Amerikanern vorgeschlagenen Friedensplans bedingungslos akzeptiert“.
Laut Selenskyj sieht der Kompromissvorschlag vor, dass jene Teile des Donbass, die noch von der Ukraine kontrolliert werden, zu einer neutralen Pufferzone zu den von Russland besetzten Gebieten werden. Der ursprüngliche 28-Punkte-Plan hatte eine Abtretung dieser Gebiete an Russland vorgesehen. In den Regionen Saporischschja und Cherson sollen dem überarbeiteten Plan zufolge die aktuellen Konfliktlinien eingefroren werden. Zudem wird laut dem Plan die russische Kontrolle über die Regionen Luhansk und Donezk sowie die Krim anerkannt.
Auch die Frage der Sicherheitsgarantien ist offenbar Teil des Kompromissvorschlags, die Ukraine verlangt Zusicherungen im Gegenzug für einen von Russland geforderten Verzicht auf einen Nato-Beitritt Kiews. Kremlsprecher Dmitri Peskow bezeichnete einen solchen Verzicht der Ukraine am Montag als „Eckpfeiler“ weiterer Verhandlungen. Selenskyj fordert in diesem Zusammenhang Garantien, die Russland nach einem Waffenstillstand von einem erneuten Angriff auf die Ukraine abhalten sollen. „Solche Garantien sind lebensnotwendig für die Ukraine“, sagt Butyrska. „Das Problem ist, dass Russland kein anderes Szenario für die Ukraine in Betracht zieht als die Kapitulation. Daher werden auf jede Zugeständnisse der Ukraine – wie beispielsweise den Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft oder die Zustimmung zu einer Einfrierung des Konflikts – weitere Forderungen Russlands folgen“, glaubt die Analystin.
Ukrainische Expertin: Waffenstillstand ist entscheidender erster Schritt
Entscheidend sei zunächst ein Waffenstillstand – für die ukrainische Analystin Butyrska eine Voraussetzung, damit die Ukraine überhaupt ein Abkommen mit den USA und Russland unterzeichnet. „Andernfalls wird Russland weiterhin ukrainisches Territorium besetzen – und gleichzeitig Trump der Ukraine vorwerfen, das Friedensabkommen nicht umgesetzt zu haben“, wenn sich das Land gegen russische Angriffe zur Wehr setze. (Quellen: Gespräch mit Nataliya Butyrska, dpa)