Die Ukraine verliert in der wichtigen Frontstadt Pokrowsk im Donbass die Kontrolle über immer mehr Gebiete. "Die Russen kontrollieren ungefähr 60 Prozent des Stadtgebietes", zitiert ein Bericht des ukrainischen Nachrichtenportals "Hromadske" einen Drohnenpiloten, der dort im Einsatz ist. "Die Situation ist beschissen", so der Soldat, der anonym bleiben wollte. Russen Truppen seien auch in den Städten Myrnohrad und Rodynske.
Russische Sabotagegruppen dringen seit Juli in Pokrowsk ein
Laut Militäranalysten ist es der Ukraine nicht gelungen, russische Aufklärungs- und Sabotagetrupps aufzuhalten, die seit Juli immer wieder in die Stadt eingedrungen waren. Russische Soldaten seien zwar größtenteils ausgeschaltet worden aber die Ukraine habe die Front dennoch nicht genügend stabilisieren können — vor allem weil vor Ort nicht genügend Infantrie eingesetzt worden sei.
Die russische Armee habe zudem in den vergangenen Monaten die Präsenz in der Region immer weiter verstärkt. Die Russen griffen auch verstärkt die Flanken an, so dass den verbliebenen Truppen in Teilen von Prokrowsk und in Myrnohrad die Einkesselung droht.
Generalstab widerspricht den Angaben - Kommandoeinsatz läuft
Der ukrainische Präsident Wolodmyr Selenskyj bestreitet russische Erfolge an mehreren Frontabschnitten im Osten des Landes. "Pokrowsk, hier hat der Feind in den vergangenen Tagen keine Erfolge gehabt", sagte der Staatschef in Kiew.
Auch der ukrainische Generalstab widerspricht den Angaben. Es seien keine Einheiten der Streitkräfte der Ukraine eingekreist, sagte der Sprecher des Generalstabs, Andrij Kowaljow, der Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine. Die Situation in Pokrowsk sei schwierig, die ukrainischen Einheiten würden alles für die Aufrechterhaltung der Logistik tun. Zudem laufe gerade eine Operation zur Verdrängung des russischen Gegners aus der Bergarbeiterstadt.
Vergangene Woche hatte der Generalstab eine Kommandoaktion verkündet. Dazu wurden sogar Spezialeinheiten des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR mit Black Hawk-Hubschraubern in die Stadt eingeflogen. Diese sollten die Ruinen der Stadt von den russischen Soldaten befreien.
Drohnenpilot: Vorderste Einheiten praktisch eingekesselt
Laut dem ukrainischen Drohnenpiloten stimme dies nicht. "Diejenigen, die sich in Pokrowsk an den vorderen Stellungen befinden, sind bereits praktisch eingekesselt, und es gibt kaum eine Chance, sich daraus zu befreien", so der Drohnenpilot in dem Bericht. "Es gibt Gebäude, Häuserblocks und Straßen, die man durchqueren muss, ohne beschossen zu werden, was fast unmöglich ist."
Mittlerweile würden die russischen Sabotagetruppen sogar ukrainische Soldaten hinter der eigentlichen Front angreifen — darunter auch Drohneneinheiten. "Heute haben unsere Piloten geschossen. Sie haben einen Russen verwundet und einen getötet", berichtet der ukrainische Drohnenpilot. "Aber wenn Piloten unter solchen Bedingungen arbeiten müssen, unter denen sie Kleinwaffen einsetzen müssen, dann ist das nur vorübergehend. Da man ständig fliegt, kann man das Gebiet nicht effektiv bewachen."
"Krebs im Stadium 4" und schlechtes Wetter
Zudem gäbe es häufiger schlechtes Wetter, bei dem man Drohnen kaum einsetzen und so eindringende Russen stoppen könne. Zahlenmäßig sei man den vorrückenden Russen ohnehin unterlegen. "Das ist bereits Krebs im vierten Stadium. Krebs im Stadium 4 ist nicht behandelbar", so der Drohnenpilot.
Es gebe zu viele russische Soldaten im Frontabschnitt bei Pokrowsk und kein funktionierendes Konzept gegen sei. "Wir haben zu spät auf die Bedrohung reagiert, und jetzt ist es unmöglich, die Situation zu beheben", so der Mann resigniert. "Vor drei Wochen wäre es noch möglich gewesen, es zu versuchen, aber nachdem die Drohnen zurückgedrängt wurden, können wir sie in der städtischen Bebauung nicht mehr effektiv zerstören."
Militäranalyst sieht Ukraine schwere Fehler wiederholen
Der finnische Militäranalyst Emil Kastehelmi sieht die Situation schwarz und die Ukraine Fehler aus der Vergangenheit wiederholen. "Es handelt sich um ein wiederkehrendes Muster, das beispielsweise in Wuhledar und Kursk zu beobachten war", so der Militärexperte. Es gebe "einen Widerwillen, einen kontrollierten, militärisch gerechtfertigten Rückzug aus einem bedrohten Vorposten durchzuführen, wenn die Lage für den Verteidiger nicht mehr günstig ist".
Besonders die fast ständig unter Beschuss stehende Logistik bereite Probleme und führe fast unausweichlich zu einem Kollaps. "Russland rückt an den Flanken vor und droht mit einer Einkreisung; die Logistik wird für größere Streitkräfte unhaltbar; die koordinierte Verteidigung bricht zusammen; Gegenangriffe bringen keine Besserung – und schließlich zieht sich die Ukraine im letzten Moment zurück." Die Folge: Die Ukraine erleide unnötige Verluste. Allein die Verteidgung der Kleinstadt Myrnohrad, südöstlich von Pokrowsk, dehne die Frontlinie um 40 Kilometer. Das Halten der Flanken in Pokrowsk sei ebenfalls mit hohen Kosten verbunden.
Experte empfiehlt Rückzug - doch Soldat warnt vor russischer Kontrolle von Pokrowsk
Kastehelmi sieht stattdessen eine Aufgabe von Pokrowsk als günstigeren Ausweg. Ein Verlust der Städte hätte nur begrenzte Auswirkungen auf Lage und Russland müsse nicht zwangsläufig an Dynamik gewinnen, schließlich habe es mehr als ein Jahr für die Eroberung der Stadt gebraucht. "Politisch gesehen wäre der Rückzug aus Pokrowsk und Myrnohrad ein herber Rückschlag, aber wenn die Ukraine sich zurückzieht und so viel Personal wie möglich schont, während sie gleichzeitig die schlimmsten Szenarien vermeidet, kann das Endergebnis als Pyrrhussieg für die Russen angesehen werden", so der Analyst.
Ein weiterer ukrainischer Soldat sieht einen Rückzug jedoch kritisch, denn dies würde die Verteidigung des restlichen Donbass erheblich erschweren. "Wenn wir Pokrowsk aufgeben, werden sich dort viele Russen ansammeln und Pokrowsk als Brückenkopf nutzen. Es wird eine große Anzahl von Drohnen-Crews geben, die sich dort wohlfühlen und uns in einer Entfernung von 30 Kilometer von Pokrowsk vernichten werden", so der ukrainischer Soldat einer anderen Einheit gegenüber Hromadske.