Die Grünen sind in der Opposition angekommen. Zumindest an den Rahmenbedingungen des Parteitags in Hannover ist das zu merken: Vor der Messehalle wehen keine grünen Fahnen, nur ein versprengtes Grüppchen von Fridays for Future demonstriert. Drinnen ist die Fläche für die Stände von Lobbyisten nicht allzu groß, die Zahl der anwesenden Mandatsträger ist eher gering.
Vor einem Jahr war das noch anders. Robert Habeck regierte als Vizekanzler und wollte die Grünen sogar ins Kanzleramt führen – das machte die Partei interessant. Doch nach dem schwachen Abschneiden bei der Bundestagswahl gab es keine Machtoption.
Jetzt also Opposition. Während sich die Rahmenbedingungen schon daran angepasst haben, ist die neue Rolle noch nicht in den Köpfen aller Parteimitglieder angekommen. Die 823 Grünen-Delegierten müssen daher in Hannover eine Standortbestimmung leisten und offene Fragen beantworten.
1. Finden die Grünen in ihre Oppositionsrolle?
In den vergangenen Monaten liefen die Grünen weitestgehend unter dem Radar. Das hatte auch damit zu tun, dass unklar war, wie sie ihre Oppositionsrolle eigentlich definieren wollen: Volle Konfrontation mit Kanzler Friedrich Merz? Oder doch eher konstruktiv mitarbeiten?
Ein Mitglied der Bundestagsfraktion wünscht sich mehr Kampf: "Ich habe das Gefühl, dass wir Grüne manchmal die bessere Regierungsarbeit machen wollen. Dabei verlieren wir uns aber in Details, die sich schwer an die breite Öffentlichkeit kommunizieren lassen."
Die meisten Abgeordneten haben keine Erfahrung mit Opposition
Bei näherem Hinsehen ist es gar nicht so erstaunlich, dass die Grünen Schwierigkeiten haben, aus dem Regierungsmodus herauszukommen. 60 ihrer Bundestagsabgeordneten – mehr als 70 Prozent der Fraktion – haben noch keine volle Legislaturperiode in der Opposition erlebt. Dazu zählt auch Parteiprominenz wie Banaszak oder die Ex-Vorsitzende Ricarda Lang.
Abgeordnete schildern, wie schwer ihnen die Umstellung gefallen ist. Während der Ampel-Zeit galt es vor allem, Mehrheiten zu organisieren und Abweichungen von der Regierungslinie zu vermeiden. Jetzt gilt es, die Abweichungen zur forcieren und so Profil aufzubauen.
Auf dem Parteitag gelingt es zumindest in Ansätzen, in den Kampfmodus umzuschalten. Die Vorsitzende Franziska Brantner sagt, Merz zeige "jungen Menschen den Mittelfinger", CSU-Chef Markus Söder wirft sie eine "Wurst-Obsession" vor. Doch so ganz wohl fühlt sich die Parteichefin dabei offenbar nicht und biegt in ihrer Rede dann doch anders ab.
2. In welche Richtung bewegen sich die Grünen?
Unter Habeck und Annalena Baerbock spielte die Richtungsfrage nur eine Nebenrolle. Die beiden Vorsitzenden und später Minister waren das Programm. Nach ihrem Abschied aus der Bundespolitik hatten viele Beobachter aber auch Parteimitglieder damit gerechnet, dass der alte Konflikt zwischen Fundis und Realos wieder aufbrechen könnte.
Bislang ist das nicht geschehen, auch nicht auf dem Parteitag in Hannover. Der Konflikt schwelt aber sehr wohl. "Der Richtungsstreit in der Partei ist nicht entschieden. Das sorgt für Unruhe und Unzufriedenheit", erzählt ein Mitglied der Bundestagsfraktion.
Banaszak: "Links ist kein Schimpfwort, sondern ein Auftrag"
Die Parteispitze will das Thema nicht zu hoch hängen. Ihre Überzeugung ist es, dass es eher die Journalisten in Berlin als die Bürger im Land interessiere. Alte Fundi-Realo-Logiken gelten da als überkommen, die Partei soll sich lieber in einem anderen Koordinatensystem verorten: und zwar "ökologisch, progressiv, liberal", so der vor dem Parteitag formulierte programmatische Anspruch.
Bei Brantner, die auf dem Realo-Ticket Vorsitzende wurde, und Banaszak, der für die Parteilinken an der Grünen-Spitze ist, mag das funktionieren. Sie sind jeweils eine eher weiche Ausprägung ihrer Flügel. Banaszak zum Beispiel betonte in der Stadtbild-Debatte, dass es durchaus "kriminelle Gruppen auch aus migrantischen Familien" gebe, "die Leute abziehen oder Frauen belästigen" – und brachte damit Parteifreunde gegen sich auf, die eigentlich eher zu seinen Unterstützern zählen.
Viele Delegierte sehnen sich aber nach einem klareren Kurs. Banaszak erhält deshalb auch den meisten Applaus in seiner Rede, als er die Grünen doch wieder im alten Koordinatensystem verortet: "Links ist kein Schimpfwort, sondern ein Auftrag!" Dafür gibt es spontan Standing Ovations.
Statt Reichinnek gibt es ein anderes linkes Vorbild
Mit der Richtungsfrage verbunden sind auch Machtperspektiven. Wollen die Grünen künftig lieber mit der Linken und ihrer Frontfrau Heidi Reichinnek regieren? Oder doch lieber mit der Union und Friedrich Merz?
"Ich verspüre wenig Motivation, mit einer CDU zu koalieren, die uns beim Sondervermögen gebraucht hat und dann wortbrüchig geworden ist", erklärt ein Delegierter. Demgegenüber stehen Politiker aus dem alten Habeck-Lager wie der Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz. Er wirbt dafür, regierungsfähig zu bleiben – auch mit der Union.
Ähnlich ambivalent ist das Verhältnis zur Linkspartei. Auf sie schauen die Grünen mit einer Mischung aus Faszination für den überraschenden Erfolg und Distanz wegen politischer Differenzen, zum Beispiel in der Außenpolitik. Daher fällt auf dem Parteitag auffällig oft der Name eines anderen linken Vorbilds: Zohran Mamdani, der mit einem linken Kurs und Fokus aufs Soziale die Bürgermeisterwahl in New York gewonnen hat.
Die Landtagswahlen sind Herausforderung für Parteistrategen
Unumstritten ist aber auch der nicht. Cem Özdemir, prominenter Realo und Spitzenkandidat für die Landtagswahl in Baden-Württemberg, wird sich kaum mit Mamdani identifizieren können. Überhaupt die Wahlen: Im kommenden Jahr stehen fünf Landtagswahlen an, vom konservativen Baden-Württemberg bis zum linken Berlin. Für die Parteistrategen wird das eine Herausforderung.
Egal, welchen Kurs man als Grüner bevorzugt – eine stille Sorge macht sich bei den meisten breit: dass die Grünen in einem Jahr aus sich heraus immer noch keine Antworten gefunden haben. Und die Wähler außen keine klare Antwort gegeben haben. Sollten alle Landtagswahlen verloren gehen – was derzeit nicht unwahrscheinlich ist – wäre die Ratlosigkeit wohl größer denn je.
3. Welche Köpfe prägen die Grünen?
Sowohl Habeck als auch Baerbock sind dem Parteitag ferngeblieben. Für die Vorsitzenden kommt das vielleicht sogar gelegen – so wird nicht noch deutlicher, was den Grünen derzeit fehlt.
Banaszak gilt zwar als umtriebig und in Teilen der Partei als beliebt, aber in der Öffentlichkeit ist sein Name immer noch weit unbekannter als der von Habeck. Brantner sehen viele als gute Fachpolitikerin, aber nicht als gute Rednerin und Führungskraft. Es ist also die logische Folge, dass auf dem Parteitag hinter vorgehaltener Hand auch über ihre Zukunft gesprochen wird, obwohl die Vorsitzendenwahlen erst in einem Jahr anstehen.
Nicht nur Brantner und Banaszak stehen in der Pflicht
Es gibt aber auch Grüne, die es für einen Trugschluss halten, dass die Parteichefs bloß liefern müssten und dann werde schon alles besser. Jeder Abgeordnete habe es selbst in der Hand, Themen zu setzen. Jeder könne so das Gesicht der Partei prägen – und selbst zu einem werden.
Ein Beispiel, wie das gehen kann: Die Leipzigerin Paula Piechotta ist Ärztin und übt den Job tageweise immer noch aus, obwohl sie seit 2021 im Bundestag sitzt. In der Maskenaffäre um Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn hat sie sich zur Chefaufklärerin aufgeschwungen. Als Antrieb nennt Piechotta ihre eigenen Erfahrungen während der Coronapandemie. Auch wenn sie manchmal über das Ziel hinausschießt, ist sie mittlerweile ein glaubwürdiges Gesicht für die grüne Gesundheitspolitik.
Zum Gesicht zu werden, braucht aber Zeit. Auf dem Parteitag ist noch nicht zu erkennen, wer künftig zu Höherem berufen sein könnte. Fragt man die Delegierten, wer dafür in Frage kommt, nennen sie eine Reihe unterschiedlicher Namen – einen, auf den sich alle einigen können, gibt es nicht.
4. Setzen die Grünen auf die richtigen Themen?
Beim Parteitag fällt auf, welche Themen nicht oder nur indirekt besprochen werden: die Lage der Wirtschaft und Migration. Dabei sind das die zwei Themen, die ausweislich von Umfragen zu den drängendsten der Bürger gehören.
Die Grünen nehmen sich stattdessen viel Zeit, um über das Klima zu sprechen. In einer Lage, in der das Thema öffentlich kaum eine Rolle spielt, ist das bemerkenswert. Man kann es aus Sicht der Öko-Partei für logisch halten, das Klima wieder in den Fokus rücken zu wollen. Aus strategischer Sicht ist es aber waghalsig, damit bei Wählern durchdringen zu wollen.
Die Grünen entdecken die soziale Gerechtigkeit
Die Parteiführung hat sich daher einen Kniff überlegt: Die Klimathemen sollen jetzt stärker mit sozialer Gerechtigkeit verbunden werden. Das Argument, dass Klimaschutz für viele zu teuer ist, will man damit entkräften. Die Nachwahlbefragung der Bundestagswahl hatte gezeigt, dass die Grünen hier Nachholbedarf haben. Nur sechs Prozent hielten die Partei für kompetent im Bereich der sozialen Gerechtigkeit.
Ein konsequenter sozialer Fokus kann tatsächlich erfolgreich sein, wie Zohran Mamdani in New York oder der niederländische Wahlsieger Rob Jetten gezeigt haben. Zumal in Deutschland die SPD hier immer größere Lücken lässt.
Banaszak, der aus einer Hartz-IV-Familie in Duisburg stammt, soll das Thema für die Grünen verkörpern. In seiner Parteitagsrede klingt er stellenweise wie ein eingefleischter Sozialdemokrat, vor allem wenn er sich an "die Arbeiter am Band beim Daimler, die Kassiererin bei Rossmann und den Paketboten bei Amazon richtet".
Bei Homöopathie-Debatte verschätzt sich der Bundesvorstand
Neben der Klimapolitik haben die Grünen in Hannover ein zweites Thema diskutiert, das historisch eng mit der Partei verknüpft ist: die Homöopathie. Die Mitglieder hatten es in einer Vorab-Befragung auf die Tagesordnung gehoben. Bei vielen hat das für Kopfschütteln gesorgt. "Die Debatte ist keine, die wir jetzt führen müssten. Wir können damit nichts gewinnen – wohl aber verlieren, wenn dabei der Eindruck entsteht, dass die Grünen zerstritten sind."
Der Antrag sah vor, Kassenleistungen für Homöopathie gänzlich zu streichen. Der Bundesvorstand hatte aber befürchtet, dass das vor allem bei den traditionell der Alternativmedizin wohlgesonnenen Baden-Württembergern für Unmut sorgen könnte. Die Grünen-Führung legte daher gegen ihre mehrheitliche Überzeugung einen alten Kompromiss als Gegenvorschlag vor.
Überraschend klar entschieden sich die Delegierten dann aber für den Antrag zur Streichung von Geld für Globuli. Für den Bundesvorstand eine kleine, aber unangenehme Niederlage. Er hatte offenbar die Stimmung im Vorfeld falsch eingeschätzt.
Fazit: Viele Fragen offen – auch die nach dem Erfolg
Die Grünen zeigen bei ihrem Parteitag gute Ansätze, lassen aber viele Fragen offen. Ein Delegierter geht daher hart mit der Veranstaltung ins Gericht: "Der Parteitag ist wie die Homöopathie, über die wir diskutieren: Er schadet nicht, er hilft aber auch nicht."
So bleibt auch unklar, ob die Grünen mittelfristig wieder an alte Erfolge anknüpfen können. Die Demoskopie liefert keine eindeutige Antwort. Auf der einen Seite trauen nur sieben Prozent der Bürger den Grünen am meisten zu, wichtigste Aufgaben in Deutschland zu lösen. Das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap weist im Vergleich zu Februar noch einmal zwei Prozentpunkte weniger aus. Die niedrigen Kompetenzwerte lassen Schlimmeres befürchten.
Auf der anderen Seite zeigt eine Forsa-Umfrage, dass 79 Prozent der Grünen-Wähler bei der Bundestagswahl heute dieselbe Entscheidung treffen würden. Das ist ein Ausweis hoher Bindekraft und kann die Partei hoffen lassen, dass die Umfragewerte nicht abstürzen. Das Wählerpotenzial liegt laut Forschungsgruppe Wahlen sogar bei 31 Prozent – zwar weniger als nach der Bundestagswahl, aber deutlich mehr als das der Linkspartei.