Ukraine taumelt: Von Putin vorgeführt, von Trump abgewatscht – Präsident in Ohnmacht

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Ukraine taumelt: Von Putin vorgeführt, von Trump abgewatscht – Präsident in Ohnmacht

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Wie lange halten die Ukrainer ohne weitere US-Waffen gegen Russland durch? „Noch lange“, orakeln einige Experten; aber dazu müssten sie sich beeilen.

Kiew – Die Nation stehe vor „einem der schwierigsten Momente unserer Geschichte“, hat Wolodymyr Selenskyj am Freitag gesagt. Die Washington Post (WP) zitiert den Präsidenten der Ukraine aus seiner aktuellen Ansprache an sein Volk. US-Präsident Donald Trump hat den Verteidigern gegen Wladimir Putins völkerrechtswidrigen Überfall erneut angedroht, die Unterstützung zu entziehen. Laut der WP habe Selenskyj eingeräumt, seinem Volk stehe das Wasser bis zum Hals: „Die Ukraine steht möglicherweise vor einer sehr schwierigen Entscheidung – entweder dem Verlust der Würde oder dem Risiko, einen wichtigen Partner zu verlieren.“

„Die Ukraine ist noch lange nicht besiegt“, schreibt Michael Peck – und widerspricht damit dem US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, der seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj vor Monaten ins Gesicht gesagt hatte, dass die Ukraine gegen Wladimir Putins Invasionstruppen „ohne die Unterstützung der Vereinigten Staaten nur eine geringe Überlebenschance hätte“. Pecks Analyse für den Thinktank „Center for European Policy Analalysis“ (CEPA) datiert von Januar 2025. Die Ukraine erlebt also ein Déjà-vu. Laut dem „Friedensplan“ des US-Präsidenten soll die Ukraine letztendlich Gebiete abtreten, um die militärischen Auseinandersetzungen zu beenden. Was hat die Ukraine also zu gewinnen?

Experte: „Russland wird seine Offensivaktivitäten gegen die ukrainische Frontlinie wahrscheinlich verstärken“

„Wenn der Sieg darin besteht, dass die Ukraine aus dem Krieg als wirtschaftlich und politisch unabhängige Nation hervorgeht, dann ist ein Sieg mehr als erreichbar. Die Ukraine hat zwar noch nicht gewonnen, ist aber noch lange nicht besiegt“, schrieb Peck Anfang Januar. Würde er diese Behauptung im Januar 2026 wiederholen? Darauf fehlt auch den Analysten des US-Thinktanks „Center for Strategic and International Studies“ (CSIS) eine schlüssige Antwort. „Russland wird seine Offensivaktivitäten gegen die ukrainische Frontlinie wahrscheinlich verstärken, sollte das russische Militär die ukrainischen Vorräte nach den US-Kürzungen als gering einschätzen“, schreiben Daniel Byman und seine Co-Autoren. Und sie lassen offen, wann dieser Zeitpunkt erreicht sein könnte.

„Ich werde Argumente anbringen, ich werde versuchen zu überzeugen und werde Alternativen vorschlagen, aber keinesfalls werden wir dem Feind Anlass geben zu sagen, dass es die Ukraine sei, die keinen Frieden wolle.“

James Stavridis hatte sich Anfang Januar in einen Allgemeinplatz geflüchtet. Gegenüber Newsweek äußerte der ehemalige Admiral der US Navy, der von 2009 an vier Jahre als Supreme Allied Commander Europe („Alliierter Oberkommandierender in Europa“) gedient hat, dass weiterhin „viele Kapazitäten in Richtung Ukraine fließen werden“, wie er sagte. Er ginge davon aus, die NATO-Verbündeten würden die möglichen Verluste aus den USA kompensieren. „Was den Friedensplan betrifft, der Präsident Selenskyj unseres Wissens vorgelegt wurde, so haben wir immer gesagt, dass jeder Plan nur dann funktionieren kann, wenn die Ukraine und die Europäer mit an Bord sind“, zitiert die Nachrichtenagentur Reuters die hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Kaja Kallas, in Brüssel.

Wolodymyr Selenskyj während einer Videoansprache an die Nation mit ernster Miene.
Die Lage ist düster für die Ukraine und für ihren Präsidenten Wolodymyr Selenskyj –hier während einer Videoansprache an die Nation zum „Friedensplan“ von US-Präsident Donald Trump. © picture alliance/dpa/Press Service Of The President Of Ukraine/AP

Europa sei in der Lage, die benötigten Rüstungsgüter aus den USA zu kompensieren, behauptete Anfang des Jahres auch eine Studie des „Kieler Instituts für Weltwirtschaft“ – die allerdings mündete in ein „Ja, aber …“: „Dazu müsste die europäische Industrie ihre Produktion rasch und deutlich steigern“, schlussfolgerte Analyst Christoph Trebesch. Anfang des Krieges hatten alle Nationen auf Lagerbestände zurückgegriffen, und diese sind jetzt geplündert. Produktionssteigerungen schließen sich mindestens aus Mangel an Geld aus, wenn nicht allein schon aufgrund des Fachkräftemangels – zumindest was die deutsche Wirtschaft angeht. Ob die Steigerung der Rüstungsproduktion in den einzelnen Mitgliedsländern politisch durchsetzbar sein würde, stünde noch auf einem anderen Blatt.

Europa liegt am Boden vorn

Die größte Abhängigkeit von US-Waffen liegt bei Raketenartillerie (beispielsweise HIMARS – 86 Prozent davon stammen aus US-amerikanischer Produktion), Munition für Haubitzen (mehr 80 Prozent US-Produktion) und Langstrecken-Flugabwehrsystemen (beispielsweise Patriot – 70 Prozent US-Produktion). In anderen Bereichen, darunter Haubitzen und Kampfpanzer, stammen die meisten gelieferten Waffensysteme bereits aus europäischer Produktion. 

Quelle: Christoph Trebesch, Kiel Institut

Die Patriots, die Granaten, die HIMARS und ATACMS könnten nun Geschichte sein, wie Donald Trump, laut der Washington Post hat verlauten lassen – in einer Ansprache im Oval Office habe er gesagt, dass Selenskyj quasi keine Wahl habe. „Es muss ihm gefallen. Und wenn es ihm nicht gefällt, dann sollten sie wohl einfach weiter streiten“, zitiert ihn WP-Autor Siobhán O‘Grady. Das Ausmaß des „Weiterstreitens“ bestimmen neben den Rüstungsgütern allerdings auch die Geheimdienstinformationen. Nach Einschätzung der CSIS-Analysten um Daniel Byman hätte die Ukraine bereits bewiesen, dass sie aus eigener Kraft werthaltige Informationen generieren könne. Lediglich die Möglichkeiten, diese Informationen in Sprengkraft umzusetzen, würden geringer, so das CSIS.

Folge „Friedensplans“: Signal, „dass die US-Bündnisse, selbst die NATO, alles andere als unerschütterlich sind“

Der Ukraine liefe die Zeit davon. Der seit dem zweiten Jahr in einem Abnutzungskrieg mäandernde Konflikt würde sich beschleunigt dem Ende entgegen entwickeln, wenn der Versorgung der Verteidiger der Stecker gezogen würde. Immerhin, so prophezeit das CSIS: „Sollten die Vereinigten Staaten ihre Hilfe für die Ukraine vollständig oder weitgehend einstellen, werden die russischen Streitkräfte das Schlachtfeld wohl nicht sofort im Sturm erobern.“ Die Engpässe würden jedoch mit jeder verschossenen Patrone der Verteidiger dramatischer werden und dementsprechend die Moral in den Schützengräben sinken. Byman und seine Co-Autoren identifizieren drei Faktoren, die den Zusammenbruch der Fronten nicht vielleicht verhindern, jedoch zumindest verlangsamen könnten: „Europas Fähigkeit, neue Rüstungsproduktionskapazitäten aufzubauen, die Fähigkeit der Ukraine, ihre Kampfkraft durch Innovationen zu steigern, und die Geschwindigkeit, mit der beides gelingt.“

Mit jeder Sekunde allerdings wächst Russlands Gewalt über die schwindende ukrainische Kampfkraft, und die Chance, das in drei Kriegsjahren erreichte Patt zu unterminieren. Wie die Analysten festhalten, wären damit auch die unter dem Ex-Präsidenten Joe Biden gegen den Kongress durchgekämpften militärischen Hilfen sinnlos verpulvert worden. Als Kollateralschaden müsste sich Donald Trump auch das Signal an Russlands Verbündete als sein Verschulden ankreiden lassen: China, Nordkorea, Belarus, der Iran – all diese Länder könnten sich bemüßigt fühlen, nach einem Ausstieg Trumps ihren Rücken außenpolitisch stärker durchzudrücken. „Der Stopp sendet zudem das Signal, dass die USA Verbündete, die einer Invasion ausgesetzt sind, nicht unterstützen werden und dass die US-Bündnisse, selbst die NATO, alles andere als unerschütterlich sind“, so das CSIS.

Selenskyjs Dilemma: Die Wahl, die Würde zu verlieren oder die Vereinigten Staaten als Schlüsselpartner

Christian Esch hat in Kiew dem ukrainischen Präsidenten offenbar gut zugehört. Sein Volk stünde vor der Wahl, die Würde zu verlieren oder die Vereinigten Staaten als Schlüsselpartner, so seine Schlussfolgerung. Der Spiegel-Autor sieht die Entscheidung allerdings beinahe schon als alternativlos an. Esch zufolge könne sich kein ukrainischer Politiker leisten, Trumps 28-Punkte-Plan in seinem Kern anzunehmen – ebenfalls könne sich Selenskyj kaum leisten, diese Punkte zu ignorieren. Pokrowsk mit seiner eingekesselten ukrainischen Armee könne wohl kaum damit rechnen, dass der Kessel von außen gesprengt würde. Im Donbas scheinen die Verteidiger ebenfalls auf verlorenem Posten zu stehen und das Unausweichliche lediglich hinauszuschieben – Esch urteilt allerdings, dass auch die Zivilbevölkerung dort nie klein beigeben würde.

Darüber hinaus habe die Korruptionsaffäre in der Energiewirtschaft einen weiteren Sargnagel in das Vertrauen in die politische Führung geschlagen – speziell auch in das Vertrauen gegenüber Selenskyj selbst, so das Nachrichtenmagazin. Er sei von seinem eigenen ehemaligen Geschäftspartner hintergangen worden. Von Wladimir Putin wird er diplomatisch vorgeführt, von Donald Trump regelmäßig abgewatscht – sein Fall steht symptomatisch für sein Volk sowie seine Armee: Der Präsident gleitet in die Ohnmacht. Wie ihn der Spiegel jetzt zitiert, hat Selenskyj früher bestimmter geklungen, jetzt scheint er sein Volk überzeugen zu wollen, dass er antrete, um zu retten, was längst verloren scheint:

„Ich werde Argumente anbringen, ich werde versuchen zu überzeugen und werde Alternativen vorschlagen, aber keinesfalls werden wir dem Feind Anlass geben zu sagen, dass es die Ukraine sei, die keinen Frieden wolle.“ (Quellen: Center for European Policy Analalysis, Center for Strategic and International Studies, Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Reuters, Washington Post, Newsweek, Spiegel) (hz)