Ungleichheit auf Höchststand: Das Vertrauen bröckelt vor allem unten

Die soziale Spaltung in Deutschland wächst – und zwar schneller als lange angenommen. Das zeigt der neue Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI), der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Seit 2018 ist die Ungleichheit nicht nur gestiegen, sondern regelrecht explodiert – auf den höchsten Stand seit Beginn der Erhebung im Jahr 1984.

Der Befund ist doppelt heikel: Ökonomische Ungleichheit und politisches Vertrauen hängen enger zusammen als bisher sichtbar. Wer wenig verdient, misstraut demnach deutlich öfter Polizei, Gerichten, Medien und Regierung – und geht seltener zur Wahl.

Einkommenskluft so groß wie seit 40 Jahren nicht

Im Kern zeigen die Daten: Die Einkommen driften immer weiter auseinander. Der Gini-Koeffizient, das zentrale Ungleichheitsmaß, ist zwischen 2010 und 2022 von 0,282 auf 0,310 gestiegen.

Auffällig: Die unteren Einkommen haben sich am schwächsten entwickelt. Während Reiche ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung weitgehend halten konnten, rutschten deutlich mehr Menschen in Armut ab.

  • Die Armutsquote stieg von 14,4 auf 17,7 Prozent.
  • „Strenge Armut“ (unter 50 Prozent des mittleren Median-Einkommens) legte von 7,9 auf 11,8 Prozent zu.
  • Die „untere Mitte“ schrumpfte – nicht weil mehr Menschen aufstiegen, sondern weil immer mehr abfielen.

 

Die WSI-Forscherin Dorothee Spannagel spricht von einer „starken Zunahme“ der Ungleichheit und davon, dass die Umverteilung durch Steuern und Sozialleistungen deutlich nachgelassen hat.

Weniger Geld = weniger Vertrauen

Der zweite große Befund des Berichts dürfte Politik und Behörden besonders alarmieren: Die gesellschaftliche Polarisierung wächst entlang der Einkommensgrenzen.

Unter Menschen unterhalb der Armutsgrenze:

  • vertrauen 24 Prozent der Polizei wenig oder gar nicht,
  • 32 Prozent misstrauen den Gerichten,
  • 51 Prozent misstrauen öffentlich-rechtlichen Medien,
  • 61 Prozent haben kaum Vertrauen in die Bundesregierung.

Auch die Wahlbeteiligung bleibt bei Geringverdienern niedrig, obwohl sie 2025 insgesamt deutlich gestiegen ist. Von der höheren Mobilisierung profitierten laut WSI vor allem AfD und Linke, die unter Menschen mit wenig Geld überdurchschnittlich oft gewählt werden. Union, Grüne und FDP wiederum werden eher von Menschen mit höherem Einkommen gewählt.

WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch warnt vor der globalen Ungleichheitskrise, die auch Deutschland zunehmend erfasse und negative Folgen für die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft und der Demokratie habe.

Was gegen die Spaltung helfen soll

Die Studie belässt es nicht bei der Diagnose – sie benennt drei große Stellschrauben:

1. Bessere Arbeit und mehr Tarifbindung

  • Mehr sichere, tarifgebundene Jobs
  • Qualifizierung statt schneller Vermittlung in Kurzzeitjobs
  • Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf

2. Stärkere soziale Sicherung

  • Leistungen müssen soziale Teilhabe sichern
  • Kritik an geplanten Nullrunden in der Grundsicherung
  • Warnung vor der Rückkehr des „Vermittlungsvorrangs“, der Qualifizierung verdrängen würde

3. Höhere Steuern auf sehr hohe Einkommen und Vermögen

  • Höherer Spitzensteuersatz
  • Kapitalerträge wieder progressiv versteuern
  • Weniger Schlupflöcher bei der Erbschaftsteuer
  • Wiedereinführung der Vermögensteuer

Spannagel betont dabei: „Omas Häuschen“ müsse weiterhin steuerfrei vererbt werden – aber Millionenerbschaften bräuchten andere Regeln.

„Untere Mitte bröckelt“ und Reiche bleiben stabil

Interessant ist, wo sich die Gesellschaft am stärksten verschiebt:

  • Die reichsten Haushalte (über 300 Prozent des Medianeinkommens) bleiben stabil bei rund zwei Prozent.
  • Die einkommensreiche Gruppe (ab 200 Prozent des Medians, heute rund 51.500 Euro netto für einen Single) liegt weiter bei gut sieben Prozent.
  • Die Mittelschicht wird insgesamt etwas kleiner – vor allem unten.

Kurz gesagt: Arme werden mehr, Reiche bleiben reich, die Mitte dünnt nach unten aus.

Was die Zahlen bedeuten

Deutschland ist kein Land der extremen Ungleichheit wie die USA – aber der Trend zeigt seit Jahren in die gleiche Richtung. Besonders brisant ist die politische Dimension: Ökonomische Abstiegserfahrungen verstärken das Misstrauen gegenüber Institutionen – bis hinein in die Wahlentscheidung.

Der neue Bericht zeigt: Die soziale Frage ist zurück – und sie wird politischer. Ohne Kurskorrektur dürfte sich die Spaltung weiter vertiefen.