Der Aufstieg der Superinfluencer - und was das für klassische Medien bedeutet

15.000 Zuschauer. Die O2 Arena im Osten Londons ist ausverkauft. Die Zuschauer sind divers, tendenziell etwas älter, sie gönnen sich Bier und Burger, manche tragen T-Shirts mit den Gesichtern der beiden Stars, die an diesem Abend auf der kleinen Bühne in der Mitte der Halle ihre Großbritannien-Tour beenden. Preis für ein Ticket in der mittleren Kategorie: 91,25 Pfund.

Die beiden auf der Bühne heißen Rory Stewart und Alastair Campbell und werden nicht singen oder tanzen, kein Shakespeare rezitieren und nur in homöopathischen Mengen Witze reißen. Stattdessen reden sie über Politik. 

Stewart, ehemaliger Parlamentarier, und Campbell, Politikberater und einst Kommunikationschef von Premier Tony Blair, sind die Gastgeber von „The Rest is Politics“ (oder für die Fans TRIP), dem erfolgreichsten Politik-Podcast Großbritanniens.

Weg von Medien, hin zu Personenmarken

Beide sind nicht immer einer Meinung, doch Extremismus, Wut oder Beleidigung gibt es nicht, stattdessen unterhaltsame Gespräche über die aktuelle Weltlage, der „Economist“ nennt TRIP die „vernünftigste Show der Welt, eine surreale Mischung aus dem Fachchinesisch des Institute for Fiscal Studies, einer Denkfabrik, und dem Wirbel von World Wrestling Entertainment“. 

Jede Folge wird 1,2 Millionen Mal heruntergeladen, hat auf YouTube über eine Million Views und der Podcast zählt nach Informationen des „Wall Street Journal“ 45.000 zahlende Abonnenten (Monatspreis: 3,49 Pfund), so dass Stewart und Campbell jeweils monatlich rund 80.000 Pfund verdienen sollten.

Wer noch daran verdient: die Produktionsfirma Goalhanger Productions. Komischer Name? Liegt an ihrem Gründer: Gary Lineker war einst einer der besten Stürmer im weltweiten Fußball. Sein Fußball-Podcast „The Rest is Football“ war der Ausgangspunkt, inzwischen produziert Goalhanger 8 der Top 20-Podcasts in Großbritannien.

Damit steht Lineker für den Beginn eines radikalen Wandels in der Informationsbeschaffung von Menschen – weg von Medien- und hin zu Personenmarken, den Superinfluencern.

Nur 44 Prozent der Antwortenden vertrauen Medien

Sie sind die logische Folge eines rasanten Vertrauensverlustes klassischer Medien. Die wichtigste Studie zu Vertrauen weltweit ist das Edelman Trust Barometer. Im vergangenen Jahr sagten 75 Prozent der dazu Befragten, dass sie Angst haben, von Journalisten und Medien bewusst angelogen zu werden – 11 Prozentpunkte mehr als 2021. 

Nur 44 Prozent der Antwortgebenden in Deutschland vertrauen Medien. Wie ließe sich Vertrauen zurückgewinnen? Rund 65 Prozent sagen: indem jemand ihre Nöte und Wünsche versteht.

Das aber kann nur durch Kommunikation passieren und der verschließen sich Medienhäuser. Kommentare unter Artikeln im Netz sind meist nicht mehr möglich, im Social Web reagieren Redaktionen selten auf das, was Leser unter Artikeln schreiben, zahlreiche Journalisten sind nicht mal im digitalen Raum präsent, Chefredakteure beschränken sich meist auf Newsletter, bei denen Leserkommentare schon technisch ausgeschlossen sind. In diese Lücke stößt eine neue Generation von Influencern.

Vorurteil blendete großen Teil der Internet-Kreativen aus

Sie werden auch als Creator bezeichnet, weil Influencer gleichgesetzt werden mit jungen, sportlichen und bestens gekleideten Menschen, die ihr scheinbar schönes Leben in Selfies abbilden.

Dieses Vorurteil blendete schon immer einen großen Teil der Internet-Kreativen aus. Influencer füllen oft Lücken, die sie selbst sehen. Beispiel: Esra Karakaya. Die junge Journalistin produziert unter der Marke Karakaya Talks im Social Web Journalismus mit Themen, die für eine junge Zielgruppe mit Migrationshintergrund interessant sind – ihre TikToks erreichen regelmäßig mittlere, sechsstellige Abrufzahlen. 

Oder „Lage der Nation“. Der Podcast mit gut recherchierten und unaufgeregten Gesprächen über aktuelle Politik erreicht mittlere sechsstellige Abrufe pro Ausgabe, beschäftigt neben den Moderatoren ein halbes Dutzend Mitarbeiter. 

Mitgründer Ulf Buermeyer ist längst Dauergast in Polit-Talkshows. In Banken dagegen steht das Blog-Newsletter-Modell Finanzszene.de im Ansehen auf Augenhöhe mit angestammten Wirtschaftsmedien – und manchmal darüber.

Und so entsteht Vertrauen

Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Umwelt, Kultur, Gesellschaft, Stricken oder Wein: Für alles, was für Menschen von Belang ist, finden sich andere, die kundiger darüber berichten als Redakteure, die immer seltener klare Fachgebiete haben. Und gleichzeitig gehören die Neulinge zur Zielgruppe, verstehen diese besser, sind offen für Kommunikation und weitaus transparenter, wenn es um Fehler oder Voreingenommenheit geht. 

Und so entsteht Vertrauen. Das erkennt auch Axel-Springer-CEO Mathias Döpfner. Im Januar 2025 im OMRPodcast sagte er: „Jeder YouTuber, jeder Podcaster ist ein potenzieller Medienmogul der Zukunft … Vertrauen ist das Entscheidende.“

Dieses Vertrauen erwerben die Newcomer durch Transparenz. Sie sind ansprechbar, legen ihre Quellen offen und wenn sie werben, dann nur für Produkte, die zu ihnen passen und zuvor zumindest einer basalen Prüfung unterzogen wurden.

Mit der Kombination aus Vertrauen und Reichweite wächst der Einfluss. Wie weit das gehen kann, zeigte die US-Wahl 2024. Donald Trump verzeichnete den größten Stimmenzuwachs bei Männern unter 30 – eigentlich eine demokratische Klientel, aber eben auch die Kernzielgruppe für YouTuber und Podcaster wie dem Demokratiegegner Joe Rogan, Interview-Podcaster Lex Fridman oder dem rechtsradikalen YouTube-Format NELK. 

Noch aber gibt es einen Haken

Bloomberg analysierte im Januar 2025 über 2000 Shows und zeichnete unter der Überschrift „The Second Trump Presidency, Brought to You by YouTubers” nach, wie selbst unpolitische Formate Werbung für Trump betrieben und so die Einstellung der jungen Männer verschoben. Um viele der neuen Kanäle und Macher entsteht eine Community, die sich aktivieren lässt, auch wenn es in andere Themenbereiche geht. Beispiel: Diana zur Löwen. 

Sie begann als Mode-YouTuberin und wechselte dann zu Lebenshilfethemen, befeuerte die Lust auf Gründungen, postete über Altersvorsorge und interviewte Politiker. Weil sie sich dabei insgesamt treu blieb, ging ihre Community all dies mit, obwohl es mehrere Kommunikationskrisen gab.

Noch aber gibt es einen Haken: die Finanzierung. Viele der Angebote setzen auf Unterstützerabos, ihre Inhalte sind weitestgehend frei erhältlich, die Anhänger zahlen aber trotzdem monatliche Summen. 

Reine Abo-Modelle haben den Nachteil, dass kaum neue Nutzer hinzukommen – sie wissen meist nicht, was sie erwartet. Und Werbevermarkter gibt es zwar, doch sie fokussieren sich in der Regel auf die großen Namen. So können viele der neuen Influencer zwar von ihrer Arbeit leben, oft aber ist auch Selbstausbeutung im Spiel.

Superinfluencer haben die Nachrichtenzyklen übernommen

Die Superinfluencer haben die Nachrichtenzyklen übernommen. Wenn Politiker oder Unternehmen eine wichtige Botschaft senden wollen, sind Podcaster, YouTuber, Twitcher oder Blogger die Priorität 1 für ihre Kommunikationsabteilungen. Die klassischen Medien dienen Superinfluencern dabei noch als Vertriebsinstrument, ihre Personenmarken sind so stark, dass sie Talkshowgäste und Buchbestsellerlisten dominieren.

Der Grund des Erfolgs ist vor allem Vertrauen. Superinfluencer kommunizieren viel und transparent mit ihrer Kundschaft. Manche bieten sogar eine Art Journalism-as-a-service: Sie setzen regelmäßig Themen um, die ihnen Menschen aus der Gemeinschaft vorschlagen. Das kann Lokalpolitik sein, Wirtschaftserklärungen oder historische Debatten, ja sogar die Beantwortung der Frage, warum ein Herzensmensch einen verlassen hat. 

Bei solchen Themen entsteht das, was Medienwissenschaftler Trust-Loop-Media nennen: Die Konsumenten der Medieninhalte recherchieren und diskutieren mit, was nachweislich die Richtigkeit der Informationen und die Bindung an den Influencer steigert.

Noch attraktiver werden die Superinfluencer durch eine Meta-Ebene. Denn die Digitalkreativen transformieren selbst zu Medienhäusern mit wachsenden Strukturen und Prozessen. Dabei schließen sie sich auch zusammen, manchmal dauerhaft, manchmal temporär, manchmal zerstreiten sich Partner auch wieder.

In den USA bahnt sich der nächste Schritt an

Über all das berichten sie auf ihren Kanälen und werden so zu einer Mischung aus Journalismus und Reality-Show. Die Fan-Gemeinde ist nicht nur bereit, Inhalte zu abonnieren, Live-Events zu besuchen oder Merchandising zu erwerben. 

Mit Creator Funds kann sie sich am wirtschaftlichen Erfolg beteiligen: Die Fonds investieren im Stil von Venture Capital in die Firmen der Superinfluencer. Und weil Fans geduldiger sind als klassische Investoren, können sich die Influencer Zeit lassen, ihr Geschäft zu entwickeln.

In den USA bahnt sich schon der nächste Schritt an. Mr. Beast, der schon 2025 über 400  Millionen YouTube-Abonnenten zählte, will als unabhängiger Kandidat bei den US-Präsidentschaftswahlen 2036 antreten – seine freundliche Art und politische Unabhängigkeit machen ihn zur wohltuenden Alternative. Kein Wunder, dass viele Medienberichte von der „5. Macht” sprechen, also einem Einflussfaktor der Gesellschaft neben Legislative, Judikative, Exekutive und Massenmedien.

Influencer haben eine geringere Kostenbasis als Journalisten

Gesellschaftlich birgt der Aufstieg der Superinfluencer aber ein Problem: Der Anteil von Investigativjournalismus sinkt signifikant. Die klassischen Medienhäuser haben dafür immer weniger Geld. Und die Superinfluencer haben ihre Stärke in der Analyse, Kommentierung und Interviewführung, weniger in der tiefen Recherche, die jahrelangen Aufbau von Beziehungen erfordert. Medienhäuser haben zu spät auf die Entwicklung reagiert, doch langsam beginnen sie ihre Transformation.

Bisher galt: Journalisten, die sich einen Namen machen wollen, haben sie aus der Angst heraus gebremst, dass diese gehen, wenn sie zu viel Bekanntheit entwickeln. Also bremsten sie – und die Mitarbeiter gingen.

Doch immer stärker wurde klar, dass Superinfluencer mit ihren Abo-Angeboten zur gefährlichen Konkurrenz wurden und man gemeinsam um das begrenzte Medienbudget der Verbraucher kämpfte. 

Influencer aber haben eine geringere Kostenbasis und können deshalb stärker auf ihren Preisen beharren. Die Verlage brauchen Cash-Zufluss und haben nicht die Bindungskraft der Superinfluencer – deshalb sind sie auf Preisaktionen angewiesen.

Acquire-Hire-Welle hat eingesetzt

Und auch hier machen die USA eine neue Dimension auf: Die Journalistin Kara Swisher, weltweit bekannt und zur Multimillionärin geworden durch ihren Podcast mit Marketing-Prof. Scott Galloway, übernimmt die „Washington Post” von Jeff Bezos, der immer mehr die Lust an seinem Medienspielzeug verloren hat. Swisher wird Herausgeberin und die „Post” zum neuen Traumarbeitgeber ambitionierter Journalisten.

Die von Medienkonzernen abgebauten Redakteure haben eine Anlaufstelle: Die App Noosphere feiert ihren 10. Geburtstag und ist zur wichtigen Einnahmequelle von Journalisten geworden, die nicht extrovertiert genug sind, um ihre eigene Marke aufzubauen. 

Abonnenten von Noosphere zahlen einen monatlichen Betrag und bekommen so TikTok-artige Berichte vor allem aus den Bereichen, die früher von Auslandskorrespondenten abgedeckt wurden.

Erst rund um die Jahrzehntwende setzen die Medienhäuser auf ihre stärksten Köpfe und rücken diese bei Werbemaßnahmen in den Mittelpunkt. Gleichzeitig hat eine Acquire-Hire-Welle eingesetzt: Medienhäuser kaufen sich Influencer-Talente ein, bevor sie groß werden. Diesen bieten sie Reichweite, aber – noch viel wichtiger – Strukturen in Gestalt von Personal und Werbevermarktung.

2035 zeichnet sich langsam ab, dass die Verlage und Sender damit nach langer Zeit wieder ein Mittel gefunden haben, um den Umsatzverfall zu bremsen und nachhaltig zu wachsen.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „20 Trends für 35 – Warum vieles besser wird, als Sie denken“. Mehr Informationen: https://www.zwanzigtrends.com 

Über die Autoren

Thomas Knüwer ist einer der bekanntesten Digitalvordenker Deutschlands. 14 Jahre betreute er für das Handelsblatt Themen rund um die digitale Transformation, bevor er als Gründungschefredakteur die deutsche Ausgabe des global renommierten Innovationsmagazins Wired konzipierte. 2009 gründete er die Digitalberatung kpunktnull, deren Arbeit mit mehreren Deutschen Preisen für Onlinekommunikation ausgezeichnet wurde. Außerdem ist er Mitgründer und -ausrichter der Goldenen Blogger, Deutschlands bekanntestem Award für Social Media, Influencer und Creator.

 

Richard Gutjahr zählt zu den einflussreichsten Tech-Journalisten des Landes. Nach Stationen bei Süddeutsche Zeitung, CNN, BR und WDR arbeitet er heute als freier Reporter für die ARD sowie als Kolumnist für zahlreiche Tageszeitungen und Fachzeitschriften. 20 Jahre moderierte er diverse News-Formate und -Magazine für den ARD-Verbund. Für seine Reportagen und Online-Projekte wurde Gutjahr national wie international mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Daneben unterrichtet er Social Media und Mobile Reporting an Journalistenschulen in Deutschland, Österreich und in der Schweiz.

 

Frank Horn ist einer der führenden Digital- und Transformationsexperten und hat in den vergangenen Jahren sowohl als Berater als auch als Führungskraft viele Unternehmen beim Wandel unterstützt. Aktuell ist er Partner der Unternehmensberatung kpunktnull. Zuvor war er bei mehreren Konzernen wie Bertelsmann, DHL Group oder Henkel in Führungspositionen tätig. Neben seiner Konzernerfahrung bewies er seinen Unternehmergeist durch den erfolgreichen Aufbau eines Internet-Startups.