Türken toben nach Tod deutscher Familie: „Alles ist teuer, nur Menschenleben sind billig“

Die Mutter Çiğdem B. (27) und ihre zwei Kinder Masal, drei Jahre, und Kadir Muhammet, sechs Jahre, sind tot. Vater Servet B. kämpft auf der Intensivstation, am Beatmungsgerät angeschlossen, um sein Leben. Die Mutter wurde neben ihren Kindern bereits, wie der islamische Ritus es vorsieht, beigesetzt. Über die Beisetzung berichtet unter anderem die Tageszeitung Hürriyet

Die vorläufigen Obduktionsresultate der Kinder und der Mutter durch das Institut für Rechtsmedizin konnten die Todesursache noch nicht klären. Für den endgültigen Obduktionsbericht muss auf die Laborergebnisse gewartet werden. Die türkischen Ermittler entnahmen Proben aller Lebensmittel, die die Familie in den letzten drei Tagen verzehrt hatte. Dazu wurden auch Proben von anderen Gegenständen, die im Hotel gefunden wurden, genommen und ins Labor geschickt.

Deutsche Familie stirbt im Türkei-Urlaub: 11 Festnahmen

Die Behörden haben am Montag drei weitere Personen als Verdächtige vorläufig festgenommen. Insgesamt elf Personen befinden sich somit aktuell in vorläufigem Gewahrsam. Die Festnahmen folgen chronologisch den Stationen der Familie auf ihrer tragischen Urlaubsreise, die in Istanbul endete. Die Urlaubsstationen der Familie dokumentieren jetzt die Schritte der Ermittler mit ihren unterschiedlichen Szenarien für die Gründe der Todesfälle. 

Die ersten Festgenommenen waren der Inhaber eines Geschäfts für türkische Süßigkeiten, ein Restaurantwirt, bei dem die Familienmitglieder Kokoreç und Muscheln aßen. Danach folgte ein Muschelverkäufer im Istanbuler Stadtteil Ortaköy. Nach diesen drei Festnahmen, bei denen eine Lebensmittelvergiftung als Todesursache postuliert wurde, wurden die Untersuchungen ausgeweitet. 

Weitere Festnahmen nach Tod von Hamburger Mutter und Kindern
Nach den Todesfällen in Istanbul werden heute toxikologische Gutachten erwartet. Am Montag gab es weitere Festnahmen. Ahmed Deeb/dpa

Todesursache von deutscher Familie: Wohl an Pestiziden gestorben

Das Drei-Sterne-Harbour-Suites-Hotel Old City wurde geschlossen, wobei auch der Hotelier inhaftiert wurde. Es besteht der dringende Verdacht, dass nicht zugelassene Pestizide eingesetzt wurden. 

Bei den letzten drei Festnahmen am Montag handelt es sich um einen Schädlingsbekämpfer und zwei Hotelangestellte. Der Kammerjäger soll nicht über die notwendige Zertifizierung verfügt haben. Es sei Aluminiumphosphid zum Einsatz gekommen, heißt es.

Gemäß der jüngsten Entwicklung wird die medizinische Behandlung des Vaters auf die mögliche Aluminiumphosphid-Vergiftung angepasst. Das extrem wirksame Pestizid ist für Menschen lebensbedrohlich und kann zu Multiorganversagen führen. Das eingeatmete Phosphingas stört den Sauerstofftransport im Blut. Es darf nur im Freien und in gut belüfteten Bereichen eingesetzt werden. Der Einsatz in einem in Betrieb befindlichen Hotel ist nicht zulässig.

Weitere Touristen in Istanbul ins Krankenhaus eingeliefert.
Zuerst gab es den Verdacht, die Familie starb an einer Lebensmittelvergiftung. Restaurants in Istanbul wurden daraufhin geschlossen. Nun steht ein Hotel im Visier der Ermittlungen. dpa

Wut unter Türken nach Istanbul-Drama: „Möge Allah ihnen gnädig sein“ 

Die Entwicklungen rund um die Ermittlung der Todesursache werden von türkischen Influencern und Medienmitarbeitern eifrig geteilt, wie von der Gerichtsjournalistin Dilek Yaman Demir. Sie widmet sich fast exklusiv dem Vergiftungsdrama. Sie erinnert auf X daran, dass es bereits vor zwei Jahren in Ankara zwei Tote durch den unsachgemäßen Einsatz von Aluminiumphosphid gab.

Das Geschehen lässt niemanden in der Türkei oder in der türkischen Community in Deutschland kalt. Unter Veröffentlichungen des Instagram-Accounts @gurbetci_sayfasi, der sich an türkische Expats in Deutschland wendet, kann man pars pro toto einen Spiegel der türkischen Diskussionen in den sozialen Netzwerken finden. Eine große Zahl der Nutzer kann kaum Worte finden und kommentiert mit „Möge Gott/Allah ihnen gnädig sein“ und dem Wunsch, dass Allah „den Hinterbliebenen Geduld schenken möge“.

Todesdrama in der Türkei: Ärger über Behördenversagen

Bei anderen kommt zu den Beileidsbekundungen die Wut, Der Nutzer @hoki__a schreibt, „Leider herrschen in unserem Land Betrug, Täuschung und Nachlässigkeit. Wir machen uns über das indische Streetfood anderer Länder lustig, aber unseres ist keine Ausnahme. Jeder in diesem Land geht seiner Arbeit nach Belieben nach, auch die Polizei. Sie verhängen Bußgelder nach Belieben und lassen andere laufen. Es gibt zwar Gesetze, aber sie werden willkürlich angewendet. Das muss aufhören…“ Er vermutet, dass die Vergiftung der Familie durch die Nachlässigkeit der Behörden ermöglicht wurde. 

@mehtapyilmaz2003 beklagt, „In der Türkei ist alles teuer, nur das Menschenleben ist billig. Es gibt keine Kontrollen, keine Hygiene, keine Moral, keine Scham. Das Menschenleben ist so wertlos, tausende Werte werden zerstört. Möge Gott ihm gnädig sein. Ich wünsche dem Vater eine schnelle Genesung. “

Dementsprechend wird auch in weiteren Kommentaren angeprangert, dass in der Türkei zu wenig kontrolliert und offenbar nicht ausreichend gegen Verstöße vorgegangen würde. „Ihr habt es gut, ihr kommt nur einmal im Jahr hierher, wir sind immer hier, unser Leben hängt am seidenen Faden, möge Gott uns helfen“, schreibt @ilkurtezelgunay als Kommentar auf die Klage einer Auslandstürkin über das Schicksal der Familie. 

Familie vergiftet: Theorien über angeblichen Mord kursieren 

Denn es gibt auch immer wieder Streit zwischen den Auslandstürken und denen, die im Heimatland leben. Dabei geht es offensichtlich darum, dass der nahezu allmächtige Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan bei Wahlen auf die Stimmen der Auslandstürken zählen kann, während er im Heimatland vermehrt angezweifelt wird. 

@nisacatker2021 prangert an, „Genau deshalb sind die Menschen wütend auf Auslandstürken. Sie verteidigen diese unfähige Regierung immer noch blindlings, und Ausnahmen bestätigen nicht die Regel.“ In den Kommentaren, nicht nur bei Instagram, findet sich unter den entsprechenden Nachrichten zum Drama der Familie die gesamte politische Bandbreite an Erklärungen. Vorwürfe werden erhoben, dass das Vergiftungsdrama zum Schaden der Türkei aufgebauscht würde. Dabei versteigen sich einige sogar in der Annahme, dass es keine Vergiftung, sondern ein gezielter Mord sei.

Das Drama der Familie B. könnte, ebenso wie die Zugunglücke in Serbien und Griechenland zu einer Art Fanal der Regierungskritiker werden. Dass es das System Erdoğan ernsthaft erschüttern könnte, muss trotz der geballten Wut zum gegenwärtigen Zeitpunkt bezweifelt werden.