Warum erkranken Frauen doppelt bis dreimal so häufig an Multipler Sklerose oder Alzheimer wie Männer? Jahrzehntelang suchte die Forschung die Antwort in Hormonen, Lebensstil oder Zufall. Nun zeigt eine Studie der University of California, Los Angeles (UCLA): Ein Gen auf dem X-Chromosom könnte der entscheidende Faktor sein – und damit ein Schlüsselpuzzleteil für das Verständnis weiblicher Gehirnalterung.
Das Gen trägt den Namen KDM6A. Es sitzt auf dem X-Chromosom und entzieht sich einer biologischen Routine, die man eigentlich für selbstverständlich hielt: der X-Inaktivierung. Frauen besitzen zwei X-Chromosomen, Männer nur eines. Damit die Genaktivität beider Geschlechter ausgeglichen bleibt, wird bei Frauen normalerweise eines der beiden X-Chromosomen stillgelegt. Doch einige Gene – wie KDM6A – entkommen diesem Prozess. Das Ergebnis: Sie werden in weiblichen Zellen stärker exprimiert, also aktiver umgesetzt.
Was nach einem kleinen genetischen Detail klingt, könnte erklären, warum Frauen anfälliger für neuroinflammatorische Erkrankungen sind – und warum manche Longevity-Interventionen bei ihnen anders wirken.
Nils Behrens ist Chief Brand Officer bei Sunday Natural, Host des Podcasts "Healthwise" und Dozent an der Hochschule Fresenius. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.
Wenn Mikroglia überreagieren
In der neuen Studie untersuchte das Team um Dr. Rhonda Voskuhl, Leiterin des Multiple-Sklerose-Programms an der UCLA, das Verhalten von Mikrogliazellen – den Immunzellen des Gehirns. Diese reagieren empfindlich auf Stress, Infektionen oder Fehlsteuerungen des Immunsystems. Überreagieren sie, entsteht eine chronische Entzündung im Gehirn – ein Zustand, der nicht nur für MS, sondern auch für Alzheimer typisch ist.
In weiblichen Zellen fanden die Forschenden eine besonders hohe Aktivität von KDM6A. Als sie das Gen gezielt in den Mikroglia von Mäusen ausschalteten, änderte sich das Bild dramatisch: Die Tiere zeigten deutlich geringere Krankheitszeichen, weniger axonale Schäden und mehr intakte Myelinstrukturen. Das Gehirn war also messbar besser geschützt.
Bei männlichen Mäusen blieb dieser Effekt aus – ein deutlicher Hinweis, dass es sich tatsächlich um einen weiblich-spezifischen Mechanismus der Neurodegeneration handelt.
Hormone, Gene und das Menopause-Dilemma
Dr. Voskuhl beschreibt diesen Mechanismus als „evolutionäres Gleichgewicht“. Während der fruchtbaren Jahre helfen X-chromosomale Gene wie KDM6A dabei, Infektionen abzuwehren. Diese pro-inflammatorische Kraft wird durch Östrogen im Zaum gehalten – ein Hormon, das zugleich neuroprotektiv wirkt. Mit dem Eintritt der Menopause aber sinkt der Östrogenspiegel. Damit entfällt die Schutzwirkung – und die entzündungsfördernden Gene entfalten ihr volles Potenzial.
Das Ergebnis: Mikroglia geraten außer Kontrolle, das Gehirn entzündet sich, Nervenverbindungen brechen zusammen. Ein stiller, aber entscheidender Prozess, der die Alterung des weiblichen Gehirns beschleunigt – und erklären könnte, warum „Brain Fog“ und kognitive Einbrüche in den Wechseljahren so häufig auftreten.
Metformin als Longevity-Schlüssel
Hier kommt ein alter Bekannter ins Spiel: Metformin. Das Diabetes-Medikament, das in der Longevity-Forschung seit Jahren als möglicher „Geroprotektor“ gilt, zeigt in dieser Studie eine überraschende Wirkung. Es kann die Aktivität von KDM6A hemmen – und damit offenbar die entzündlichen Prozesse bremsen, die bei Frauen zu neurodegenerativen Veränderungen führen.
In den Mausversuchen verbesserte Metformin die neurologischen Scores deutlich, senkte die Aktivierung der Mikroglia und förderte deren Rückkehr in einen „Ruhezustand“. Die Genmuster der behandelten Tiere ähnelten jenen, die auch bei genetisch deaktiviertem KDM6A zu beobachten waren. Interessanterweise zeigte sich dieser Effekt fast ausschließlich bei weiblichen Mäusen. Männer profitierten kaum.
Diese Beobachtung stärkt eine Hypothese, die in der Longevity-Community zunehmend diskutiert wird: Alterung ist geschlechtsspezifisch. Was für Männer schützt, kann für Frauen neutral oder sogar nachteilig sein – und umgekehrt.
Longevity ist kein Unisex-Konzept
Die Erkenntnisse der UCLA-Studie fordern die Langlebigkeitsmedizin heraus. Denn viele klinische Studien zu Neurodegeneration, Immunalterung oder Metabolismus wurden jahrzehntelang überwiegend mit männlichen Probanden durchgeführt. Die Annahme: Was dem männlichen Gehirn nützt, wird auch dem weiblichen helfen.
Doch genau hier scheint der Fehler zu liegen. Wenn Gene wie KDM6A bei Frauen anders wirken, dann müssen auch Interventionen individuell angepasst werden – von Ernährungsstrategien über Hormontherapien bis hin zu Pharmaka wie Metformin.
Voskuhl bringt es auf den Punkt: „Frauen brauchen in der Menopause Strategien, die das Gehirn in seiner Balance halten. Das kann auch den Einsatz von östrogenbasierten Substanzen umfassen, die gezielt auf das Nervensystem wirken.“
Was das für die Zukunft bedeutet
Für die Longevity-Medizin eröffnet diese Entdeckung ein neues Feld: neuroimmunologische Präzisionsmedizin nach Geschlecht. Sie könnte erklären, warum Alzheimer, Parkinson oder MS bei Frauen häufiger auftreten – und warum manche Anti-Aging-Therapien bislang widersprüchliche Ergebnisse liefern.
Die Verbindung zwischen Epigenetik (wie der Histon-Demethylase KDM6A), Hormonstatus und neuroinflammatorischer Aktivität dürfte künftig entscheidend sein, um weibliche Langlebigkeit gezielt zu fördern. Metformin könnte hier eine Brücke schlagen – als molekulares Werkzeug, um Entzündungsprozesse zu dämpfen und neuronale Stabilität zu erhalten.
Zugleich unterstreicht die Studie die zentrale Rolle der Mikroglia: Sie sind nicht bloß Immunzellen, sondern Schaltzentralen des Alterns im Gehirn – sensibel, geschlechtsspezifisch und therapeutisch beeinflussbar.
Fazit: Diese Forschung erinnert daran, dass Langlebigkeit kein geschlechtsneutraler Prozess ist. Frauen altern anders – biologisch, hormonell, epigenetisch. Das Verständnis dieser Unterschiede ist kein Detailwissen, sondern Voraussetzung für eine personalisierte Longevity-Medizin.
Vielleicht ist das größte Missverständnis der modernen Anti-Aging-Debatte, dass sie oft von einem „Einheitskörper“ ausgeht. Doch wer das Gehirn wirklich schützen will, muss lernen, in XX und XY zu denken – und dabei das Gleichgewicht zwischen Genen, Hormonen und Lebensstil neu zu definieren.