„Mein Aufstieg war weder Zufall noch Glück und er ist schon gar kein Märchen“, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin Dr. Lela Grießbach. Der Titel ist wichtig – denn dass sie ihn erlangen würde, war statistisch äußerst unwahrscheinlich. Wer in Armut aufwächst, hat kaum Aufstiegschancen.
Die heute 41-jährige Georgierin kam als Au-pair nach Hamburg – und startete durch. Das wäre nicht möglich gewesen, hätte sie alle Behörden-Regeln für Einwanderer befolgt.
Heute ist Grießbach zertifizierte Diversity-Trainerin und Hochschuldozentin. Sie hat das Karrierenetzwerk "My Georgia Women" für zugewanderte Frauen gegründet.
Wer in Kinderarmut aufwächst, hat statistisch kaum Chancen
FOCUS online: Sie haben im Sommer als Wirtschaftswissenschaftlerin promoviert. Statistisch hätten Sie es niemals dahin schaffen dürfen, sagen Sie. Warum?
Lela Grießbach: Die Zahlen sprechen eindeutig dagegen. Laut einer, wie ich finde, erschreckenden OECD-Statistik dauert es in Deutschland 150 Jahre, bis Kinder aus den untersten Einkommensschichten das durchschnittliche Einkommensniveau erreichen. Was sagt uns diese Zahl?
Sagen Sie.
Grießbach: Wenn Sie heute in Kinderarmut geboren werden, wird Ihr Enkelkind den gesellschaftlichen Durchschnitt nicht erreichen. Und auch nicht Ihr Urenkelkind. Und auch nicht Ihr Ururenkelkind. Und auch nicht Ihr Urururenkelkind. Ihr Ururururur…
Fünfmal "Ur", habe ich richtig mitgezählt?
Grießbach: Genau, dieses Kind wird endlich die Chance bekommen. Auf den Durchschnitt. Statistisch gesehen.
"Wir mussten entscheiden: warme Dusche oder Licht an?"
Lassen Sie uns den Begriff Kinderarmut genauer beleuchten. Sind Sie in Armut aufgewachsen?
Grießbach: Ich würde das schon so sehen, ja. Ich komme aus Georgien, aus einer Arbeiterfamilie. Wir lebten in einfachsten Verhältnissen. Man musste sich beispielsweise entscheiden: warme Dusche oder Licht an? Eine Heizung hatten wir nicht, nur einen kleinen Holzofen in einem der Zimmer. Gekocht haben wir mit Feuer und es kam nicht selten vor, dass ich mittags hungrig war, weil es nichts gab, was ich als Schulessen hätte mitnehmen können. Schulbücher wären viel zu teuer gewesen, die habe ich mir von Klassenkameraden geliehen. Ich war ein wissbegieriges Kind. Aus einer einfachen Petroleumlampe wurde mein Licht zum Lernen, sage ich immer.
Wann ist Ihre Familie nach Deutschland übergesiedelt?
Grießbach: Nicht die Familie, ich bin alleine gekommen. Das war 2007, mit fast 23 Jahren. In Georgien habe ich keine Zukunft für mich gesehen. Ich hatte Journalismus und Musik studiert, arbeitete dann aber monatelang ohne jeden Verdienst. Die Neunzigerjahre waren schwierige Zeiten. Das Land war völlig korrupt. Man konnte nur was werden, wenn man Geld hatte oder Kontakte. Ich hatte weder das eine noch das andere.
"Da willst du hin? In dieses Land, wo die Menschen so kalt sind?"
Warum fiel Ihre Wahl auf Deutschland?
Grießbach: Gute Frage. Meine Familie hat damals erschrocken reagiert: Da willst du hin? In dieses Land, wo die Menschen so kalt, so direkt, so unhöflich sind? Wo es keinen Familienzusammenhalt gibt?
Ist das ein gängiges Bild in Ihrer Heimat?
Grießbach: Schon, aber es gehört noch mehr in dieses Bild. Pünktlichkeit zum Beispiel. Zuverlässigkeit. Und Willensstärke. In all diesen Bereichen habe ich mich vom Typ her gesehen. Ich war immer eine gute Schülerin. Mehrfach Klassensprecherin, einmal wurde ich zur Vorsitzenden des Schulparlaments gewählt. Böse Zungen würden sagen, ich war eine Streberin. Ich dachte: Vielleicht passe ich da ja ganz gut hin? Letztendlich war es aber auch ein pragmatischer Entschluss: Deutschland war das einzige europäische Land, in das ich legal einreisen konnte. Ich hatte mich als Au-pair beworben – und eine Familie gefunden, die mich nehmen wollte. Meine Ankunft war sehr bewegend.
Kinder werden nachhause geschickt: "Wäre in Georgien unvorstellbar"
Im Positiven oder im Negativen?
Grießbach: Beides. Die Ankunft am Hamburger Flughafen war erst mal ein Schock. Der Himmel war grau. Es regnete. Die Menschen wirkten irgendwie so verschlossen, so unglücklich. Aber meine Gastfamilie war toll. Ich hatte ein eigenes Zimmer. So was hatte ich zu Hause nie gehabt. Und es gab eine Fußbodenheizung. Unglaublich!
Hat sich das Vorurteil von den distanzierten Deutschen bestätigt?
Grießbach: Ja und nein. Wie gesagt, die Familie war super. Ich war keine zwei Wochen da, da hatte ich Geburtstag. Bis dahin war dieser Tag in meinem Leben nie besonders gefeiert worden. Jetzt ging es schon morgens los, mit Kuchen und Geschenken. Für den Nachmittag hatte meine Gastmutter eine kleine Überraschungsparty organisiert. Nachbarn kamen vorbei, die Schwiegereltern. Anders als befürchtet, war ich nicht die billige Arbeitskraft, sondern wirklich ein Familienmitglied.
Und doch haben Sie auch Distanziertheit erlebt?
Grießbach: Nicht mir gegenüber, ich glaube, das ist eher eine generelle Sache der deutschen Mentalität. Wenn die Kinder der Familie irgendwo anderes gespielt haben, wurden meine Gasteltern gegen Abend angerufen: Wann kommt ihr, euer Kind holen? So etwas wäre in Georgien unvorstellbar. Da würde man einfach ein paar mehr Kartoffeln in den Topf werfen und für das Kind mitplanen. Und der Quasi-Rausschmiss war kein einmaliges Erlebnis, sowas passierte ständig und ich erlebe das jetzt auch, seitdem ich Mutter von zwei Kindern bin. Nachbarn, die an der Tür klingeln, werden nicht reingebeten. Geselligkeit scheint mir in Deutschland wenig spontan stattzufinden. Alles will geplant und im Vorfeld organisiert sein. Bis heute fällt es mir schwer, mitanzusehen, wie dieses tolle Land sich teilweise selbst blockiert, weil in bestimmten Systemen gedacht wird, von denen man unter keinen Umständen beziehungsweise nur in Ausnahmefällen abrücken will.
"Die Nachricht vom Ministerium war ein Schock"
An was denken Sie dabei noch?
Grießbach: Nach meinem Jahr als Au-pair war für mich klar, dass ich gerne in Deutschland bleiben möchte. Welche Chancen hatte ich? Das habe ich prüfen lassen. Die Nachricht vom Ministerium – meine Bildungsabschlüsse würden für ein Studium nicht ausreichen – war ein Schock. Ich las das Kleingedruckte: Falls Sie mit der Entscheidung nicht einverstanden sind…
… und das waren Sie nicht…
Grießbach: Genau, also stand ich kurz darauf vor dem Ministerium. Ich war insgesamt elf Jahre zur Schule gegangen, weil es in postsowjetischen Ländern damals nur dieses eine Elf-Klassen-Schulsystem gab. Für Deutschland reicht das nicht aus. Ich hatte Glück: Die Mitarbeiterin des Ministeriums hörte sich meine Geschichte geduldig und auch ziemlich interessiert an. Am Ende meinte sie, mein Werdegang würde sie beeindrucken. Sie gab mir eine Ausnahmegenehmigung.
Für was?
Grießbach: Ein Studienkolleg. Das ist eine einjährige Vorbereitung fürs Studium. Ziemlich herausfordernd, zumal, wenn man wie ich praktisch ohne Sprachkenntnisse nach Deutschland gekommen ist. Und dann soll man sich also mit deutscher Geschichte, deutscher Grammatik und so weiter beschäftigen. Der Abschluss zählt wie das deutsche Abitur. Ich habe mir große Mühe gegeben und mit Eins bestanden.
"Offiziell hätte ich kaum arbeiten dürfen"
Wie haben Sie während dieses Jahres Ihr Leben finanziert?
Grießbach: Gute Frage, denn offiziell hätte ich kaum arbeiten dürfen…
Offiziell?
Grießbach: Meine Au-pair-Familie hat mich weiter unterstützt. Erst mal hat sie sich für mein Visum eingesetzt, dafür haben sie eine Verpflichtungserklärung abgegeben. Ein großer Vertrauensbeweis! Aber die Aufenthaltsgenehmigung war nur das eine, ich brauchte natürlich Geld. Dafür habe ich an den Wochenenden oft weiter auf die Kinder aufgepasst. Daneben hatte ich den ein oder anderen zusätzlichen Babysitter-Job. Wie gesagt, offiziell hätte ich all diese Jobs wahrscheinlich nicht annehmen dürfen, weil für Drittstaatenangehörige die Arbeitszeiten sehr eingeschränkt waren, zumindest damals. Hier sehe ich einen der großen Widersprüche im Land. Du darfst nicht arbeiten. Und gleichzeitig will die Ausländerbehörde Geld auf deinem Konto sehen. Das ist paradox! Die Strukturen werden an vielen Stellen einfach nicht weitergedacht.
Nach dem Studienkolleg haben Sie dann studiert?
Grießbach: Ja, Wirtschaftswissenschaften. Und ich habe nebenher gearbeitet, hatte jetzt drei verschiedene Jobs. Ich war als Werkstudentin in einem Büro in der Verwaltung tätig, habe abends in einer Pizzeria gekellnert und an den Wochenenden habe ich weiter babygesittet. Offiziell hätte ich als Studentin maximal 20 Stunden arbeiten dürfen. Und das auch nicht das ganze Jahr. Genau das meine ich, wenn ich sage, die Strukturen werden nicht weitergedacht. Wenn ich hierbleiben will, mir etwas aufbauen will, brauche ich doch Möglichkeiten, um hier… nein, nicht nur zu überleben – Fuß zu fassen! Was ich jedenfalls sicher nicht brauche, ist diese Erwartungshaltung, die mir über die Jahre immer wieder begegnet ist: Du musst dankbar sein.
"Deutschland könnte stärker sein, wenn es beweglicher wäre"
Was finden Sie daran falsch?
Grießbach: Ich finde das ziemlich einseitig gedacht. Es stimmt schon, ich habe hier in Deutschland wunderbare Chancen bekommen. Nach dem Bachelor habe ich berufsbegleitend den Master gemacht, ich arbeitete in dieser Zeit bei der Unternehmensberatung Ernst und Young. Ja, ich bin dankbar. Und gleichzeitig war es am Ende mein Engagement, das mich dahin gebracht hat, wo ich heute bin. Ich habe es nicht wegen dieser oder jener Möglichkeiten geschafft, könnte man vielleicht sogar sagen. Sondern: trotzdem. Trotz Migrationshintergrund. Obwohl Deutsch nicht meine Muttersprache ist. Obwohl ich eine Frau bin…
Aber was stimmt denn nun? Sind Sie "wegen" oder "trotzdem" da, wo Sie heute sind?
Grießbach: Beides ist richtig und wahr und ich glaube, genau das ist der Punkt: Wir täten gut daran, nicht immer nur das eine oder das andere zu sehen. Nicht nur die Chancen und den Reichtum, den es hierzulande gibt. Und auch nicht nur die Probleme, beispielsweise durch die Einwanderung. Mir erscheint das manchmal arg schwarz-weiß. Darunter leiden nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund. Wenn es um Themen wie Bürokratie oder Digitalisierung geht, sind von diesem, wie ich es nenne, Schubladendenken alle betroffen! Deutschland könnte so viel stärker, so viel zukunftsfähiger sein, wenn es in sich beweglicher wäre. Wenn man mehr das "Big Picture" im Blick hätte, sich nicht so im Klein-Klein verzetteln würde.
Aufstieg dank Durchhaltevermögen, Solidarität und Systemkritik
Was könnte aus Ihrer Sicht dabei helfen, das Land beweglicher zu machen?
Grießbach: Der Perspektivwechsel. Schauen Sie, ich habe beide Seiten in mir. Ich habe geheiratet, mein Mann ist Deutscher. Wir haben zwei Kinder bekommen. Und ich habe Karriere gemacht. Ich bin mittendrin in diesem System, schätze Deutschland sehr. Aber als eine, die von außen kommt, halte ich auch immer wieder inne, schaue über den Tellerrand und glaube zu sehen, wo es hakt, was besser laufen könnte.
Nämlich?
Grießbach: Deutschland ist ein starkes Land, aber es bringt nichts, sich auf dieser Stärke auszuruhen. Und es stimmt auch nicht, dass jeder es schaffen kann, wenn er nur will. Mein sozialer Aufstieg ist das Ergebnis von drei Dingen. Erstens: von Durchhaltevermögen. Zweitens: von solidarischen Menschen, die Türen geöffnet haben. Und drittens von einer gewissen Systemkritik.
"Geht vor allem darum, sich wieder als Gemeinschaft wahrzunehmen"
Spielen Sie damit wieder auf die Bürokratie an? Und auf den aus Ihrer Sicht fehlenden Fortschritt, Stichwort Digitalisierung?
Grießbach: Ja, aber es ist mehr als das, das Thema ist größer, genereller. Vielleicht wird klarer, was ich meine, wenn ich Ihnen ein Bild gebe. Schauen Sie, die Gastfamilie, bei der ich damals Au-pair war, hatte alles. Der Keller war voll, so viele Vorräte, so viel gutes Essen hatte ich vorher noch nie irgendwo gesehen. Aber wenn es darum ging, eine Mahlzeit zuzubereiten, wurde erst mal geschaut: Wie viel haben wir von diesem oder jenem da und was muss unbedingt aufgefüllt werden, um dieses Essen hier und heute überhaupt kochen zu können? Mich hat das irritiert. Ich fragte mich: Wenn so viel da ist, warum legt man dann nicht einfach los und kocht?
Was ist es also, das Deutschland fehlt? Die Leidenschaft? Die Spontanität? Die Fähigkeit, zu genießen?
Grießbach: In all diesen Punkten könnte das Land durchaus ein wenig nachlegen, finde ich. Generell geht es aber vor allem darum, sich wieder mehr als Gemeinschaft wahrzunehmen. Und nicht als eine Ansammlung von Einzelkämpfern, die von einer vergleichsweise guten Startposition kommen. In Georgien gibt es diesen Spruch: Eine Hand wäscht die andere.
Den gibt es in Deutschland auch.
Grießbach: Aber in Georgien geht es noch weiter: Beide Hände waschen das Gesicht.
Das heißt?
Grießbach: Es sollte mehr Dialog stattfinden. Sprechen wir nicht so viel über andere. Sprechen wir mehr miteinander. Fühlen wir uns ein, versuchen wir, zu verstehen.
"Georgien bleibt mein Heimatland. Aber Deutschland ist mein Zuhause!"
Der von Ihnen bereits angesprochene Perspektivwechsel?
Grießbach: Genau. Hier das System und da derjenige, der reinpasst oder vielleicht auch nicht? Das ist vielfach zu kurz gedacht. Wer so denkt, vergisst, dass er selbst Teil des Systems ist. Dass er für dieses System kämpfen, es gestalten kann. Mir fällt das ehrlicherweise oft bei den Kindern auf: Sie lernen nicht mehr, für etwas zu kämpfen. Sie werden gelobt und belohnt, wenn sie sich in den gewohnten Bahnen bewegen, aber dieses Lob macht nicht mutig, nicht veränderungsbereit. Das bewegt sich für mich gefühlt eher in einem gewissen Komfortbereich. Nach dem Motto: Lassen wir alles so, wie es ist. Damit sind wir bisher schließlich gut gefahren.
Aber?
Grießbach: Die Zeiten ändern sich, der Komfortbereich ist keine Garantie mehr.
Und nun?
Grießbach: Eben. Sollten wir uns fragen: Welche Ressourcen haben wir? Was macht wirklich stark – und was kann weg? Nehmen wir vielleicht noch mal die Sache mit den Kindern: Auch ich habe das Bedürfnis, belohnt zu werden. Ich genieße es, jetzt auf Bühnen zu stehen und von meinem Werdegang zu berichten. Ich werde beklatscht und ein bisschen fühlt sich das an, wie in den Arm genommen zu werden. Und genau danach sehnt sich doch letztlich jeder. Wie können wir dieses Land gestalten, sodass wir alle mehr bekommen? Mehr Anerkennung? Mehr Wertschätzung? Mehr individuelles Entfaltungspotenzial? Das sind für mich entscheidende Fragen beim Blick in die Zukunft.
Und die sehen Sie für sich weiter hier in Deutschland?
Grießbach: Absolut. Georgien bleibt zwar mein Heimatland. Aber Deutschland ist mein Zuhause!