Ich erinnere mich an eine Zeit, in der ich kaum noch wusste, wer ich war. Es war, als würde ich in einem Spiegel stehen, aber das Spiegelbild gehörte nicht mir. Alles, was ich tat, dachte, fühlte, drehte sich darum, wie der andere mich sah. Wenn ich lachte, fragte ich mich, ob mein Lachen richtig klang. Wenn ich eine Entscheidung traf, war die erste Frage in meinem Kopf: „Gefällt ihm das?“
Langsam, fast unbemerkt, verlor ich mich. Stück für Stück. Bis ich irgendwann das Gefühl hatte: Da ist gar nichts mehr von mir übrig. Nur noch eine Version, die funktionierte, um den Frieden zu wahren, um die Nähe nicht zu verlieren.
Wenn Sie das kennen, dann wissen Sie, wie schmerzhaft es ist, im Spiegel eines Narzissten zu leben.
Chris Oeuvray ist psychologische Beraterin und Narzissmus-Expertin. In ihren Büchern wie „Du genügst“ zeigt sie Betroffenen toxischer Beziehungen Wege zu Selbstwert, Stärke und einem befreiten Leben. Sie ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen ihre persönliche Auffassung auf Basis ihrer individuellen Expertise dar.
Sie sind nicht allein
Co-Narzissmus beschreibt genau dieses Phänomen: dass Sie Ihre Identität anpassen, um im Schatten eines Narzissten bestehen zu können. Es ist keine Schwäche, sondern ein Überlebensmuster. Viele von uns haben früh gelernt: „Wenn ich mich anpasse, werde ich gesehen. Wenn ich widerspreche, verliere ich Liebe.“
Das führt dazu, dass Sie irgendwann Ihr eigenes Selbst aus den Augen verlieren. Ihre Träume, Ihre Bedürfnisse, Ihr inneres Licht. All das verblasst hinter der Macht, die der Narzisst über Ihr Selbstbild gewinnt.
Doch das Wichtigste ist: Sie sind nicht allein. Sie sind nicht „falsch“. Und Sie können den Weg zurück zu sich selbst finden.
Kennen Sie das auch?
- Sie sagen „Ja“, obwohl Ihr Herz „Nein“ schreit, weil Sie Angst haben, verlassen zu werden.
- Sie passen Ihre Meinung an, weil Widerspruch ohnehin nur Streit auslöst.
- Sie spüren kaum noch, was Sie eigentlich selbst wollen, weil Sie ständig damit beschäftigt sind, Erwartungen zu erfüllen.
Wenn Sie sich in diesen Punkten wiederfinden, dann sind Sie mitten in dem, was man Co-Narzissmus nennt. Aber das bedeutet auch: Es gibt einen Namen für das, was Sie erleben. Und wenn es einen Namen hat, kann man es verändern.
Drei kreative Wege zurück zu sich selbst
1. Der Spiegel der Wahrheit
Stellen Sie sich vor einen echten Spiegel. Diesmal nicht den des Narzissten, sondern einen, der nur Ihnen gehört.
Sagen Sie laut drei Sätze, die mit „Ich bin …“ beginnen. Nicht Rollen („Ich bin Mutter, ich bin Partnerin“), sondern Wesenskern: „Ich bin mutig.“ „Ich bin sensibel.“ „Ich bin frei.“
Machen Sie es jeden Tag. Es mag banal wirken, aber Ihr Nervensystem lernt wieder, Sie selbst zu erkennen.
2. Ein Tag nach Ihren Regeln
Planen Sie einen Tag, an dem Sie keine Erwartungen erfüllen. Nicht für Partner, nicht für Familie, nicht für Freunde. Fragen Sie sich morgens: „Was will ich heute wirklich?“ Und dann tun Sie es. Egal, wie klein es scheint. Es könnte ein Spaziergang sein, ein warmes Bad oder einfach: nichts. Dieser Tag ist wie ein Muskeltraining für Ihre Autonomie.
3. Die „Nein“-Challenge
Setzen Sie sich ein Ziel: Diese Woche drei Mal bewusst „Nein“ sagen. Nicht in großen Konflikten, sondern im Alltag: „Nein, ich möchte das nicht essen.“ „Nein, heute passt es mir nicht.“
Jedes kleine „Nein“ ist ein Akt der Selbstbefreiung. Es ist, als würden Sie Ihre Identität Stück für Stück zurückholen.
Wenn Sie das alles machen, werden Sie …
… eines Tages in den Spiegel blicken und endlich wieder sich selbst sehen. Sie werden spüren, dass Ihr Wert niemals davon abhing, wie sehr Sie sich anpassen oder gefallen.
Sie werden merken: Ihr „Nein“ zerstört keine Liebe, sondern es erschafft Respekt. Und Sie werden erleben, wie sich ein neues, starkes Selbst entfaltet – eines, das nicht länger vom Blick eines Narzissten abhängt, sondern in der eigenen Wahrheit ruht.
Denn am Ende ist Heilung nichts anderes, als wieder nach Hause zu kommen. Zu sich selbst.
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Bildquelle: Chris Oeuvray
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"Du genügst: Empathen lieben. Narzissten zerstören." von Chris Oeuvray.