Die Wahrheit über Totalverweigerer im Bürgergeld ist anders, als viele vermuten

Wer die ohnehin heiß geführte Bürgergeld-Debatte so richtig befeuern will, bringt geschickt den Begriff „Totalverweigerer“ ins Spiel und erfreut sich am Auflodern der Flammen. „Totalverweigerer“ – das klingt nach purer Arbeitsunlust, schürt Emotionen, ist aber am Ende – und jetzt wird es wieder etwas kälter – kein sozialrechtlicher oder juristischer Ausdruck. 

Der „Totalverweigerer“ ist vor allem ein politisches Schlagwort

Er ist sogar recht frei interpretierbar, denn er steht in keinem Paragrafen, ist nirgends definiert und taucht in keiner amtlichen Statistik als Kategorie auf. Entsprechend gibt es keine belastbare Summe und keine Erhebung zu einer solchen Gruppe.

Der „Totalverweigerer“ ist vor allem ein politisches Schlagwort, das Empörung bündelt, lenkt und vor allem in jedem politischen Spektrum funktioniert. 

Ein ideales Thema, in das sich vieles hineinprojizieren lässt: Klassenkampf, Leistungsgedanke, Sozialismus, Gerechtigkeit, Gemeinschaftsgefühl, Solidarität, Recht auf Vollversorgung, Belastung der arbeitenden Bevölkerung, gesellschaftlicher Umsturz, Kapitalismus – immer wieder, wenngleich nicht jederzeit, gerät man bei der Debatte auf eine höhere, ideologische, nicht selten versteckte Ebene, die eine Versachlichung erschweren und eine Skepsis gegen die mannigfaltigen Angaben aufkommen lassen sollten.

In den Medien werden dennoch immer wieder Zahlen genannt: Diese reichen von unter einem Prozent (häufig 0,4 bis 0,7 Prozent) bis hin zu fast einem Viertel (in der Regel von Praktikern). Diese passen gemeinhin oft zur jeweiligen Agenda und werden auch so zitiert.

Worauf beziehen sie sich aber wirklich? Und: Wer soll das sein, dieser „Totalverweigerer“?

Grundlegender Überblick

Beginnen werden muss aber mit der Basis, denn es ist wichtig zu wissen, wie viele Menschen überhaupt betroffen sein könnten. In Deutschland beziehen – je nach Monat leicht schwankend, aber damit müssen wir bei allen der genannten Zahlen leben – rund 5,3 Millionen Menschen Leistungen nach SGB II. Davon gelten etwa 3,9 Millionen als erwerbsfähig (ELB). 

Bereits der Begriff ist kritikwürdig, denn er bedeutet lediglich, mindestens drei Stunden täglich arbeiten zu können. Die Schwelle ist so niedrig angesetzt, dass sie sehr wenig über die tatsächliche Belastbarkeit aussagt und von Anfang an verdeutlicht, dass ein Teil auch bei größtem Wollen niemals seinen Lebensunterhalt aus eigener Kraft bestreiten wird. 

Unter den 3,9 Millionen sind folglich viele Menschen mit multiplen Einschränkungen, die dauerhaft niemals Vollzeit tätig und immer auf staatliche Unterstützung angewiesen sein werden.

Gleichzeitig sind rund 830.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte erwerbstätig. Meist geschieht dies in Teilzeit, Minijobs oder im Niedriglohnbereich. Weitere Menschen befinden sich – die Liste ist nicht abschließend – vorübergehend im Krankenstand, in Maßnahmen oder werden in der Kinderbetreuung gebunden. Als arbeitslos im SGB II gelten zuletzt etwa 1,86 Millionen, davon maximal 900.000 als langzeitarbeitslos. 

Wie bereits betont, schwanken diese Zahlen immer wieder leicht, weswegen eine Festlegung auf einen konkreten Monat vermieden wird.

Zahlen zu den „Verweigerern“

Für „Totalverweigerer“ gibt es keine offizielle Zählung. So gut wie jede Zahl ist daher eine Fiktion. Manche begründeter, andere weniger. Es existieren nur Sanktionsdaten:

  1. 2024 wurden monatlich im Schnitt ca. 27.400 Personen mit mindestens einer Leistungsminderung erfasst; im Jahresverlauf waren es rund 185.600 unterschiedliche Personen (jede Person nur einmal gezählt). Bezogen auf alle etwa 3,9 Mio. erwerbsfähigen Leistungsberechtigten entspricht das grob 4,8 Prozent im Jahr bzw. ca. 0,7 Prozent pro Monat.
  2. Das Spektrum von 4 bis 6 Prozent wird auch immer wieder einmal zitiert, aber nicht jede Sanktion ist dabei eine Verweigerung. Der größte Teil betrifft Meldeversäumnisse (z. B. nicht wahrgenommene Termine). Explizite Sanktionen wegen Verweigerung von Arbeit, Ausbildung oder Maßnahmen machten nur einen kleinen Bruchteil aus (ca. 23.000 Fälle im Jahr). Nähme man diese und setzt sie ins Verhältnis zu den 3,9 Millionen, erhält man tatsächlich den Wert um die 0,6 Prozent, früher eher 0,4 Prozent, der häufiger genannt wird.
  3. Nun könnte man zumindest die 185.600 Personen auch gegen die Zahl der Langzeitarbeitslosen quotieren, statt die Gesamtsumme der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, bei denen viele zumindest teilweise arbeiten, und dann würde man knapp 20 Prozent erreichen. Nur wäre es nicht redlich, denn es würden sich Bezugsgrößen vermischen, die vermutlich sowieso schon bunt durcheinandergewürfelt wurden. Eine Diskussionsgrundlage wäre aber gegeben.

Warum die Zahlen wenig über „Haltung“ sagen

Die Wahrheit ist aber leider, dass keine der genannten Zahlen und Datengrundlagen wirklich hilfreich für das Thema ist, denn Sanktionen sagen kaum etwas über die Haltung der Einzelnen zur Arbeit aus:

  1. Eine Sanktion belegt kein dauerhaftes „Nicht-wollen“. Hinter Meldeversäumnissen stecken häufig Überforderung, Krankheit, Sorgearbeit, instabile Wohnlagen, Schulden, psychische Belastungen oder schlicht Missverständnisse.
  2. Umgekehrt sagen auch die wenigen Sanktionen wegen expliziter Verweigerung nichts über eine dauerhafte und generelle Ablehnung von Erwerbsarbeit.
  3. Unangenehm, aber auch richtig: Wer Erwerbsarbeit auf Dauer meiden möchte, tut das oft subtiler als durch eine offen dokumentierte Verweigerung einer konkreten Option. Oder etwas deutlicher formuliert: Ein bewusster Arbeitsverweigerer wird wohl so gut wie nie sanktioniert, da er sich in der Regel nicht gegenüber den Ämtern als ein solcher zu erkennen geben würde.

Das Phantom „Totalverweigerer“

Unterm Strich bleibt der „Totalverweigerer“ ein Phantom. Schon der Begriff ist irreführend, kennt nur Extreme. Zu viele Grauzonen machen die Kategorie unbrauchbar und reduzieren ihn auf einen politischen „Kampfbegriff.“

Es fehlt an Definition, an operationalen Kriterien und an Daten, die eine seriöse Quantifizierung erlauben würden. Und selbst wenn man Sanktionsstatistiken heranzieht, erzählen sie mehr über Verwaltungsabläufe als über Motivation.

Wer verstehen will, warum Menschen im Bürgergeld nicht arbeiten, muss, jenseits der Feststellung von Defiziten, ein tieferes Verständnis für die Gedankenwelt der Betroffenen entwickeln, eine Clusterung vornehmen und die Hilfe anschließend individualisiert, holistisch und langfristig anpassen.

Erfahrungen aus Modellprojekten nutzen

Dass das gelingen kann, zeigen BMAS-geförderte, noch nicht vollständig ausgewertete, Modellversuche, an einem war auch der Autor beteiligt. In diesem einen konkreten Rahmen konnten Hunderte Betroffene aus dem Bereich Langzeitarbeitslose mit multiplen Beeinträchtigungen im SGB-II-Bereich – im Schnitt über 1,7 Jahre – intensiv betreut und beobachtet werden.

Erst solch eine Nähe macht konkrete Einschätzungen – im Langzeitschnitt – beispielsweise des Arbeitswillens (ca. 76 Prozent hatten zumindest noch einen kleinen Arbeitswillen), des Bekenntnisses zu bürgerlichen Normen (15,8 Prozent kennen dies nicht bzw. lehnen sie ab) oder zur Therapiebereitschaft (34,1 Prozent lehnten Therapien ab) über einen größeren Zeitraum möglich. 

Auf Basis dieser und vieler weiterer Variablen ergab sich eine Clusterung nach Situationsakzeptanz und Aktivitätsgrad, die konkrete Aussagen dazu machen kann, ob die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit noch zur Gedankenwelt gehört oder nicht.

Einordnung

Nun kann hinterfragt werden, ob Daten aus sechs Regionen in Bayern und Baden-Württemberg auf Deutschland übertragbar sind, aber das ist nicht der Punkt. Die zentrale Botschaft bleibt, dass nicht nur eine Ermittlung von Defiziten, sondern auch der inneren Einstellung möglich ist. Beides macht den Menschen und seine Bedürfnisse aus. 

Vernachlässigt man eines, werden wahrscheinlich die falschen Unterstützungsmechanismen gewählt, und der Erfolg bleibt aus. Angemerkt sei aber auch, dass es bemerkenswert ist, wie dünn die Datenlage sich gestaltet und daher einen Rückgriff auf laufende Projekte mit regionaler Begrenzung notwendig machen. Hier gibt es augenscheinlich ein Forschungsloch.

Der Hauch des Paradigmenwechsels

Es ändert aber nichts an der profanen Erkenntnis, dass man kennen muss, wem man helfen will: Das scheint mittlerweile auch die Bundesregierung so zu sehen, denn, leider etwas unbeachtet, spricht sie in der jüngsten Vereinbarung vom Oktober 2025 von einer, dieses Mal gesetzlich vorgegebenen, Unterteilung:

„Die Jobcenter clustern die Leistungsbezieherinnen und -bezieher anhand der Arbeitsmarktnähe und richten die Intensität der Beratung und Betreuung auf dieses Kriterium aus. […] In diesem Zusammenhang wollen wir den Erwerbsfähigkeitsbegriff realitätsnäher definieren, damit Menschen, die auf Dauer nicht in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können, die für sie richtige Hilfe erhalten können. […] Für Langzeitarbeitslose wollen wir eine engere Betreuung mit deutlich höherer Kontaktdichte.“

Erst einmal Worte, denen noch Taten folgen müssen, und selbst dann können sich gute Initiativen wie der § 16k SGB II (Ganzheitliche Betreuung) als unterfinanzierte Papiertiger erweisen.

Wichtig ist aber, dass aus der Erkenntnis, dass die Bürgergeldempfänger keine homogene Masse sind, Konsequenzen gezogen werden. Den „Totalverweigerer“ gibt es nicht, wohl aber eine heterogene Gruppe von Leistungsempfängern, für welche die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nach gesellschaftlicher Vorstellung keine Rolle mehr spielt.

Die Gründe hierfür sind mannigfaltig und sollten im Detail erforscht werden. Mit den bisherigen Methoden bleiben sie allerdings unsichtbar.

Im Ideal stehen am Ende passgenauere, langfristige und ganzheitliche Maßnahmen für die Betroffenen, zu denen auch Sanktionen gehören dürfen. Das wären auf Dauer auch keine Mehrkosten, sondern Investitionen in ungenütztes Potenzial. Was wirklich geschehen wird, bleibt abzuwarten.

Andreas Herteux ist Wirtschafts- und Sozialforscher, Herausgeber und Autor des Standardwerks zur Geschichte der Freien Wähler (FW) und Gründer der Erich von Werner Gesellschaft. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.