Politik-Experte Uwe Wagschal - Wahl gewonnen – Mandat verloren? Unser neues Wahlsystem hat ein großes Problem

 

Wie das neue Wahlrecht Wahlkreisgewinner benachteiligt

Traditionell bedeutete der Gewinn eines Wahlkreises seit 1949 den sicheren Einzug in den Bundestag. Doch durch das neue Zweitstimmendeckungsverfahren ändert sich dies grundlegend. Eine Partei erhält nur so viele Mandate, wie ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Das führt dazu, dass Wahlkreissieger in manchen Fällen nicht ins Parlament einziehen, weil ihre Partei nicht genug Zweitstimmen auf Landesebene erreicht. Die Wahlkreise mit dem schwächsten Erststimmenergebnis kommen dann nicht zum Zuge.

Um abzuschätzen, wie viele Wahlkreise ungedeckt bleiben, müssen sowohl die Erststimmenergebnisse als auch das Zweistimmenergebnis – auf Basis der aktuellen Umfragen – zur Ergebnissimulation herangezogen werden. Diese Berechnungen wurden mit einem eigens entwickelten Wahlkreissimulator durchgeführt.

Wendet man einheitliche Veränderungen über alle Bundesländer gleich an, so würde die Union aktuell 213 der 299 Wahlkreise (= 71,2 Prozent aller Wahlkreise, plus 70) gewinnen. Die AfD würde 37 (+21 Wahlkreise), die SPD 35 (-86 Wahlkreise), die Grünen 11 (-5 Wahlkreise) und die Linke wieder 3 Wahlkreise gewinnen (vgl. Abbildung 1). Der Wahlkreis Leipzig II, der bereits 2017 und 2021 von der Linken gewonnen wurde, wird wieder der Linken zugerechnet, trotz eines kleinen CDU-Vorsprungs in der Wahlkreissimulation.

Szenario 1: Alle Kleinen im Bundestag („All-In“) – 31 ungedeckt

Sollten FDP, Linke und BSW die Fünf-Prozent-Hürde überwinden oder die Linke drei Direktmandate gewinnen, würde das zu einer stärkeren Zersplitterung des Bundestags führen. Nach Berechnungen würden in diesem Szenario die Union allein vom Zweitstimmendeckungsverfahren betroffen werden. Die 213 gewonnenen Direktmandate sind mehr als die 201 Mandate, die der Union nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Da die CDU in den ostdeutschen Bundesländern und den Stadtstaaten wenig Direktmandate holen wird, sind es vor allem die westdeutschen Flächenländer bei denen ungedeckte Wahlkreise entstehen. Insgesamt sind nach der Simulation 24 Wahlkreise der CDU und 7 der CSU, also insgesamt 31, nicht gedeckt.

Besonders betroffen wäre Baden-Württemberg, wo die CDU fast alle Wahlkreise gewinnen könnte, aber durch das moderate Zweitstimmenergebnis 7 Kandidaten nicht in den Bundestag schicken kann. In Bayern könnten ebenfalls bis zu 7 Mandate ungedeckt sein, in Hessen fünf und in Schleswig-Holstein 3. Aber selbst in Berlin könnte die CDU 2 ungedeckte erhalten, Besonders in Großstädten, wo Wahlkämpfe oft eng sind, könnte es dazu führen, dass Wahlkreise ohne direkte Repräsentation bleiben. Diese Regelung könnte für erhebliche Frustration bei den Wählern sorgen.

Szenario 2: Keine der kleinen Parteien zieht ein („All-Out“)

Sollten FDP, Linke und BSW an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern und die Linke nicht drei Direktmandate erzielen, hätte dies eine massive Veränderung der Sitzverteilung zur Folge. Die CDU/CSU würden ihre Mandate auf 236 steigern, während die AfD mit 165 Mandaten, die SPD mit 134 und die Grünen 94 Mandaten rechnen könnte (SSW 1 Mandat). Die Zahl der ungedeckten Wahlkreise würde hingegen auf 12 sinken, da weniger Parteien Mandate beanspruchen würden.

Dieses Szenario hätte jedoch einen entscheidenden Nachteil: Rund 20 Prozent aller abgegebenen Stimmen würden „verfallen“, da sie für Parteien abgegeben wurden, die nicht ins Parlament einziehen. Das wäre ein Rekord bei Bundestagswahlen. Dies könnte die Verfassungsmäßigkeit der Fünf-Prozent-Hürde erneut zur Diskussion stellen, wie schon frühere Urteile des Bundesverfassungsgerichts angedeutet haben.

Szenario 3: Die Linke schafft drei Direktmandate, BSW und FDP scheitern knapp

In diesem gemischten Szenario erreicht die Linke drei Direktmandate und zieht dadurch in den Bundestag ein, während das BSW und die FDP knapp an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Die CDU/CSU würde in diesem Szenario mit 225 Mandaten weiterhin die stärkste Kraft sein. Die AfD kämen auf 157 Sitzen, die SPD auf 127, die Grünen 90 Mandate und die Linke 30 Mandate (BSW 1 Mandat).

Die Anzahl der ungedeckten Wahlkreise würde sich in diesem Fall 17 betragen, wobei die nur Union betroffen wäre. In Baden-Württemberg (4), Hessen (4), Rheinland-Pfalz (3) und Bayern (2) könnte es zu mehreren ungedeckten Wahlkreisen kommen. Besonders kritisch könnte es werden, wenn einige Wahlkreise weder über die Erststimme noch über die Liste im Bundestag repräsentiert werden.

Problematische Auswirkungen auf die Demokratie

Die neuen Regeln führen zu einer paradoxen Situation: Je mehr Parteien in den Bundestag einziehen, desto mehr Wahlkreisgewinner könnten leer ausgehen. Umgekehrt sorgt ein strenges Fünf-Prozent-Kriterium dafür, dass weniger Stimmen berücksichtigt werden und größere Parteien profitieren. Das demokratische Grundverständnis, dass die Wähler mit ihrer Erststimme direkt ihren Wahlkreisabgeordneten bestimmen, wird dadurch erheblich eingeschränkt.

Verschiedene Reformen könnten nach der Bundestagswahl dieses fehlerhafte Wahlsystem korrigieren. Eine Reduzierung der Wahlkreise von 299 auf 250 bis 260 Wahlkreise, eine Einführung von Bundeslisten statt Landeslisten oder eine begrenzte Wiedereinführung von Überhangmandaten könnten helfen, das Problem zu entschärfen.

Die Bundestagswahl 2025 wird ein Testfall für die neue Wahlrechtsreform. Die Simulationen zeigen, dass ungedeckte Wahlkreise ein echtes Demokratieproblem werden könnten. Die CDU/CSU ist davon besonders betroffen, aber auch in Extremfällen könnte die SPD in Bremen oder die AfD in Thüringen betroffen werden. Ob dies zu politischen Reformen oder neuen Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht führen wird, bleibt abzuwarten. Sicher ist jedoch: Die Diskussion über das Wahlrecht wird nach dieser Wahl nicht enden.

Tabelle 1: Ausgangsdaten Simulation der Wahlkreisgewinner zur Bundestagswahl 2025