Interview mit Bahnkritiker Arno Luik - „Erst verschwindet die Bahn, dann die Post, dann die Kliniken - dann kommt die AfD“
FOCUS online: Herr Luik, wie schauen Sie auf den GDL-Streik der letzten Tage?
Arno Luik: Ich staune. Und ich wundere mich, dass es überhaupt zu diesem Streik kam. Denn die Forderungen der GDL sind nicht abwegig oder unverschämt. Mir kommt es so vor, als hätte die Bahnspitze kein Interesse daran gehabt, diesen Streik zu verhindern. Wir erleben gerade krisenhafte Tage, ökonomische Verwerfungen sind jederzeit möglich, auch eine Rekordinflation – und da einen Tarifvertrag mit einer Laufzeit von 32 Monaten anzubieten, ist eine Frechheit. Eine Kampfansage.
Warum?
Luik: Die Hauptforderung der GDL ist zeitgemäß – die schrittweise Einführung der 35-Stunden-Woche. In vielen anderen Betrieben ist so etwas längst selbstverständlich. Die Deutsche Bahn ist zu 100 Prozent im Staatsbesitz, sie wird von uns Steuerzahlern Jahr für Jahr mit zig Milliarden subventioniert. Geht dieser Staatsbetrieb anständig mit seinen Angestellten um?
Das Gefühl habe ich nicht. Ich kenne Lokomotivführer, die schieben – angehäuft in einem Jahr – 400 bis 600 Überstunden vor sich her. Da ist ein ordentliches Familienleben kaum möglich. Der Staatsbetrieb Bahn, finde ich, muss ein Vorbild für gute Arbeitsbedingungen sein.
Finden Sie also, die Lokführer streiken zu Recht?
Luik: Die Lokführer sehen ihre Kollegen in den Nachbarländern, sie wissen, dass dort die Gehälter, etwa in Österreich, Luxemburg oder der Schweiz, höher und die Arbeitsbedingungen ungleich besser sind. In der Schweiz verdient ein Lokführer zwischen 70.000 und 100.000 Schweizer Franken im Jahr. Hierzulande kommt ein Lokführer im Schnitt auf 35.000 Euro bis 45.000 Euro.
„Man streikt nicht aus Spaß. Streik ist Notwehr“
GDL-Chef Claus Weselsky hat vor dem Streik nicht mit der Bahn verhandelt. Er behauptet, das Unternehmen hätte kein verhandlungsfähiges Angebot auf den Tisch gelegt. Wie sehen Sie das?
Luik: Weselsky wird oft als der böse Bube dargestellt. Aber er ist kein Klassenkämpfer. Er ist Mitglied der CDU. Weselsky hat mit rund 20 Privatbahnen Tarifverträge abgeschlossen – ohne, dass die Öffentlichkeit etwas davon mitbekommen hätte. Es ging ratzfatz. Da war der Wille zum Ausgleich da. Überall gab es Einstiege in die 35-Stunden-Woche, geregelte Arbeitszeiten wurden vereinbart, Ruhezeiten nach Schichtarbeit. Man sieht: Weselsky ist nicht auf Krawall gebürstet. Man streikt ja nicht aus Spaß. Streik ist Notwehr. Es muss also einen Grund für den jetzigen, massiven Bahnstreik geben.
Und der ist?
Luik: Für mich zeigt der aktuelle Streik, dass es um etwas anderes ging als die Forderungen der Lokführer. Mein Verdacht: Die Bahn will die GDL vorführen, sie will nur mit der kuschligen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) verhandeln.
Das müssen Sie genauer erklären.
Luik: Die GDL ist ungeheuer streikbereit. Weil die Lokführer die Ungerechtigkeit, die sie empfinden, nicht mehr tolerieren wollen. Die neun Vorstände der Bahn bekommen neun Millionen Euro an Boni ausgezahlt. Ihre Grundgehälter sind riesig. Bahnvorstand Martin Seiler, der für Fragen des Personals zuständig ist, kommt alles in allem auf 1,3 Millionen Euro, dazu erhält er noch einen dicken Bonus.
Für was? Dass er Tarifangebote macht, die keine Gewerkschaft akzeptieren kann? Dass die Bahn zu wenig Mitarbeiter hat? Zu wenig Lokführer? Bahn-Chef Richard Lutz hat ein Grundgehalt, das ungefähr dreimal so hoch ist wie das des Bundeskanzlers, dazu noch Boni in Höhe von zwei Millionen Euro.
Für was bloß? Dass die Bahn unter seiner Regentschaft mit 35 Milliarden Euro in den Miesen ist, also: faktisch pleite. Die Eisenbahner – und viele, viele Bundesbürger – fragen sich: Wie kann es sein, dass die Bahnchefs, die den Laden an die Wand gefahren haben, Stichworte: Verspätungen, Zugausfälle, notorische Unzuverlässigkeit - dafür noch üppigst belohnt werden?
„Am Zustand der Bahn zeigt sich der Zustand des Landes“
Es brodelt also.
Luik: Die Zustände bei der Bahn sind in gewisser Weise ein Symbol für zu Vieles, was im Land derzeit schief läuft. Da ist das Gefühl: „Die da oben kassieren ab“ – und wir werden geschröpft. So entsteht Staatsverdrossenheit. Eine gefährliche Stimmung. Auch der ramponierte Zustand der Bahn verärgert sehr viele Mitbürger, Tag für Tag.
Viele wissen noch: Die Deutsche Bahn war einmal perfekt. Vorbild für fast alle Bahnen auf dieser Welt. Die Schweizer schauten neidisch nach Deutschland und staunten: Wie machen die das? Heute lassen die Schweizer oft deutsche Züge nicht mehr in ihr Land, denn: Schweizer haben keine Lust, ihre top-funktionierenden Fahrpläne durch die dahinstümpernde, unzuverlässige Deutsche Bahn AG durcheinander wirbeln zu lassen.
Eigentlich verständlich.
Luik: Es ist leider so: In kurzer Zeit, seit der Bahnreform 1994, als die Deutsche Bahn zur Aktiengesellschaft wurde, wurde sie systematisch kaputtgespart. Sie sollte sexy für den Börsengang werden. Die diversen Bahnchefs haben seither fast Nichtmachbares geschafft: Aus einem überaus robusten Unternehmen, einem Betrieb, der nahezu perfekt funktionierte, einen Laden zu schaffen, der marode ist, der eine Schande für eine Industrienation ist.
Diese Bahn, fürchte ich, ist irreparabel beschädigt. Und jenen, die für diesen deplorablen Zustand verantwortlich sind, Boni zu spendieren – das ist ein Schlag ins Gesicht jedes Bundesbürgers. Vor allem für jene, die mehr und mehr Mühe haben, finanziell über die Runden zu kommen.
Sie spielen auf die aktuelle politische und gesellschaftliche Lage an. Die AfD verzeichnet immer mehr Zulauf, die Wut auf die Ampel ist groß.
Luik: Es herrscht, wie angedeutet, eine gefährliche Grundstimmung. Das Gefühl, nochmals: „Die da in Berlin, die da oben, die sorgen sich nur um sich und nicht um uns“. So eine Grundstimmung kann sich schnell verfestigen. Die Bauern gingen auf die Straßen – nicht nur wegen des Diesels. Der war nur das berühmte Tröpfchen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Da hatte sich über die Jahre etwas angestaut. Und der dramatische Zulauf zur AfD? Gerade auf dem Land fühlen sich viele von ihrem Staat vernachlässigt. Zugespitzt gesagt: erst verschwindet die Bahn, dann die Post, dann die Krankenhäuser. Und dann kommt die AfD. Am Zustand der Bahn zeigt sich der Zustand des Landes.
„Die Bahn befindet sich in einem desolaten Zustand“
Weselsky bezeichnete den Bahn-Vorstand als „Luschen“, „Versager“, „Duckmäuser“ und als „Nieten in Nadelstreifen“. Hat er in Ihren Augen Recht?
Luik: „Nieten in Nadelstreifen“ stimmt nicht, weil die Bahnchefs heute keine Nadelstreifen mehr tragen. Aber der Rest ist leider und unseligerweise durch Fakten gedeckt. Die Bahn befindet sich in einem desolaten Zustand. Und die Verantwortlichen dafür sitzen in der Unternehmenszentrale in Berlin.
Wie kann man sich den Bahn-Vorstand denn vorstellen?
Luik: Mal grundsätzlich gesagt: Seit gut drei Jahrzehnten sind die Bahnchefs keine Bahnprofis. Sie haben das Handwerk nicht von der Pike auf gelernt – doch das Geschäft Bahnfahren ist eine hochkomplizierte Materie. An der Spitze waren und sind Menschen, die merkwürdigerweise aus Konkurrenzfirmen zum potenziell ökologischen Verkehrsunternehmen Bahn kamen: Dürr – Autoindustrie; Mehdorn – Autoindustrie; Grube – Autoindustrie, Luftfahrt. Und nun heißt es, Richard Lutz sei ein Bahner.
Aber das stimmt so nicht. Lutz ist zwar schon lange bei der Bahn – als Finanzkontrolleur, als Finanzchef. Und er hat all die desaströsen Sparprogramme seiner Chefs, die die Bahn in diesen erbärmlichen Zustand brachten, abgesegnet. Es ist wirklich traurig. Würde der Fußballverein Bayern München einen Mittelstürmer von einem Basketballverein holen?
Auch im derzeitigen Bahnvorstand sitzt kein Einziger, der das Bahnfahren wirklich gelernt hat. Alle Chefs waren zu Beginn ihrer Bahnkarriere Bahn-Azubis. Überbezahlte Bahn-Azubis. Wenn es die Politik ernst meint mit der angestrebten Verkehrswende, dann müssen wirkliche Bahnprofis an die Spitze dieses so wichtigen Unternehmens, wie in Österreich oder der Schweiz.
Sie haben sich in den vergangenen Jahren eingehend mit dem System „Deutsche Bahn“ beschäftigt. Was läuft schief?
Luik: Wie schlecht es um die Bahn steht, merkt jeder Bürger, wenn er Zug fährt. Die Pünktlichkeitsquote liegt derzeit bei knapp 60 Prozent. Peinlich. Wobei diese Quote überhaupt nichts aussagt. Denn „ein Zug, der nicht losfährt, kann nun mal nicht zu spät ankommen“, sagt Bahnchef Lutz. Also tauchen ausgefallene Züge in der Statistik nicht auf. In der Logik des Bahnchefs, wäre eine perfekte Bahn also eine Bahn, bei der gar kein Zug mehr fährt. Nur leicht übertrieben gesagt: Der einzige Zug, der in Deutschland rechtzeitig losfährt, ist der Rosenmontagszug in Mainz.
Was müsste sich bei der Bahn langfristig alles ändern?
Luik: Ich fürchte, dass wir nie mehr eine Bahn bekommen, wie sie für ein Industrieland wie Deutschland selbstverständlich sein sollte. Und wie sie es mal war. Um auf den Zustand der Schweiz zu kommen, müsste das Gleisnetz schlagartig um 25.000 Kilometer verlängert werden. Ein Ding der Unmöglichkeit.
Das Gleisnetz wurde seit 1994 von über 40.000 Kilometern auf heute 33.000 Kilometer reduziert, also um rund 20 Prozent. Stellen Sie sich mal vor, das Autobahnnetz wäre so unverantwortlich zurückgebaut worden. Chaos total. Und dieses Chaos haben wir bei der Bahn.
Ich habe mit Disponenten gesprochen, also jene Menschen, die zunehmend verzweifelt versuchen, die Züge am Laufen zu halten, und die sagen: Zwei Drittel der Züge verkraftet das Bahnnetz. Aber ein Drittel der Züge müssen wir irgendwie hin- und herschieben. Im Klartext: Ein normaler Fahrplan ist gar nicht mehr möglich. Der Notfallfahrplan während des Streiks funktioniert besser als der normale.
Gibt es noch mehr Probleme?
Luik: Das Gleisangebot ist nicht nur zu gering, auch die Industrieanschlüsse wurden dramatisch zurückgebaut. 1994 gab es 12.000 Anschlüsse für die Industrie, heute sind es noch knapp 2000, Tendenz weiter fallend. Etwas über 60 Prozent der Strecken in Deutschland sind elektrifiziert. Ein Witz im Vergleich zu anderen Industrienationen. 2020 wurden gerade mal 19 Kilometer elektrifiziert.
Wenn es in dieser Geschwindigkeit mit der Elektrifizierung weitergeht, sind wir in hundert Jahren da, wo die Schweiz seit vielen, vielen Jahren ist. Dazu kommt: Seit 1994 sind über 100 Groß- und Mittelstädte, etwa Heilbronn, Potsdam, Chemnitz, Trier, Wetzlar vom Fernverkehr abgehängt worden. Für Millionen Bürger wurde damit das Bahnfahren erschwert, richtig unattraktiv.