FOCUS online: Herr Professor Raffelhüschen, in der Diskussion um einen Karenztag vertreten Sie die Meinung, dass es nicht nur einen, sondern drei Karenztage geben sollte. Würde das die Versicherten nicht überfordern, die ohnehin mit ständig steigenden Kosten durch Inflation etc. zu kämpfen haben?
Bernd Raffelhüschen: Ja, das wird den einen oder anderen überfordern. Aber wir haben viele Probleme, das Gesundheitswesen zu finanzieren. Wir haben Kosten, wir haben Beitragszahler und wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass das eine teure Angelegenheit wird.
Wir zahlen international mit am meisten. Woran liegt das?
Raffelhüschen: Nicht nur international, auch auf der Zeitschiene in Deutschland wird es Jahr für Jahr teurer. Die Corona-Pandemie hat sicher noch einmal einen Schub gegeben, aber die Anreize, sich krankschreiben zu lassen, sind einfach zu hoch.
Ein Karenztag reicht also nicht?
Raffelhüschen: Seien wir ehrlich - so ein Karenztag ist nichts anderes als eine Selbstbeteiligung. Wir haben zwei große Probleme. Erstens: Die Menschen sind sehr lange krank, das hat extrem zugenommen. Themen wie Burn-out sind im Zeitgeist angekommen und in aller Munde.
Was kann man dagegen tun?
Raffelhüschen: Man könnte darüber nachdenken, das Krankengeld von derzeit 70 Prozent auf das Niveau des Arbeitslosengeldes abzusenken.
Und Problem Nummer zwei?
Raffelhüschen: Die Neigung, mal einen Tag „blau zu machen“, hat stark zugenommen. Das könnte man mit einem Karenztag eindämmen. Aber bei zwei oder drei Tagen wird das viel klarer.
Und was ist mit denen, die sich das nicht leisten können?
Raffelhüschen: Es gibt auch die Möglichkeit, dass Geringverdiener nur ein oder zwei Karenztage tragen, aber ab einem mittleren Verdienst drei Tage. Wichtig ist aber etwas anderes.
Das wäre?
Raffelhüschen: Wir müssen die Diskussion führen, dass wir etwas ändern müssen. Wir sind in der misslichen Lage, dass immer weniger Beitragszahler immer mehr Krankheitstage finanzieren müssen.
Sie fordern auch, dass die Patienten mehr Eigenbeteiligung zahlen sollen, zum Beispiel 20 Prozent auf Medikamente oder eine höhere jährliche Selbstbeteiligung von 500 oder 1000 Euro für Arztbesuche. Ist das realistisch? Und welche Partei könnte so etwas durchsetzen? Im Wahlprogramm wird es wohl kaum auftauchen, weil es sehr unpopulär ist.
Raffelhüschen: Wir hatten schon einmal Karenzzeiten und werden sie wieder einführen müssen. Von den Politikern im Wahlkampf darf man da nichts erwarten - das würde ich auch nicht tun. Aber es gibt durchaus einige, die erkennen, dass wir kein Einnahme-, sondern ein Ausgabenproblem haben. Das muss klar sein: Wir haben die höchsten Sozialausgabenquoten und die höchsten Beitragseinnahmen. Sollen wir das noch weiter erhöhen? Dann sind wir irgendwann nicht mehr bei 42, sondern bei 50 oder 55 Prozent. Das können wir nicht machen, denn dann verliert der Sozialstaat an Akzeptanz.
Das klingt ähnlich wie bei der Rente.
Raffelhüschen: Ja, denn auch die Krankenversicherung ist ein Generationenvertrag. Die Alten werden von den Jungen finanziert, weil sie weniger krank werden. Aber wenn wir es so belassen wie bisher, werden unsere Kinder irgendwann 26 bis 28 Prozent ihres Lohns nur für die Krankenversicherung zahlen. Das ist nicht darstellbar.
In diesem Dilemma steckt auch die Pflegeversicherung.
Raffelhüschen: Das ist sogar die verschärfte Form. So oder so: Wir müssen an die Leistungen ran und die Eigenbeteiligung erhöhen.
Wie sehen Sie die Verwaltungskosten der Krankenkassen? Müssen die nicht auch etwas tun, um das Finanzproblem zu lösen?
Raffelhüschen: Wer an der Ausgabenstruktur herummäkelt, hat keine Ahnung. Die Verwaltungsquote liegt bei 5,5 Prozent - das ist völlig normal und akzeptabel. Das Problem ist nicht die Verwaltung, sondern die ausufernde Ausgabenstruktur.