Polizei, Politik, Posts - Spezialist für Vermisstenfälle: Die schonungslose Analyse zum tragischen Fall des toten Arian
Der vermisste Arian: orientierungslos in einer bedrohlichen Welt
Der Autist Arian hat sich – davon kann man ausgehen – in einer verzweifelten Situation befunden. Nachdem er das Elternhaus am 22. April verlassen hat, dürfte er mehr oder weniger orientierungslos und aufgrund seiner Krankheit in normalen Kontakt zu seiner Umwelt behindert durch die Landschaft geirrt sein.
Durch Kommunikationsbeeinträchtigungen aufgrund seiner Krankheit hat er sich vermutlich, wenn er Menschen in seiner Umgebung wahrgenommen hat, sogar vor diesen versteckt und ist dann später allein weiter geirrt. Alles andere ist im Moment Spekulation: etwa dass das Kind tagelang gehungert hat und letztlich elendig verdurstet ist. Das wird möglicherweise eine genaue Obduktion des Leichnams feststellen.
Die Angehörigen: größte Verzweiflung durch die Ungewissheit
Für die Eltern des kleinen Arian und die weiteren nahen Verwandten beginnt mit der ersten Stunde des Vermisstseins des Kindes eine Höllentour. Die Ungewissheit führt die Betroffenen in größte Verzweiflung. Ist das Kind einem Verbrechen zum Opfer gefallen? Ist es tot, entführt? Hat es einen Unfall gegeben? Irrt der Junge orientierungslos durch die Welt? Ist man möglicherweise schuld an dem Geschehen?
Bei solchen aufsehenerregenden Vermisstenfällen findet die Betreuung der Angehörigen nicht allein durch Polizei, sondern auch mit ihr kooperierenden Psychologen und Seelsorgern statt. Das ist als erste Maßnahme gut, doch findet bei dieser Betreuung natürlich auch eine Beeinflussung der Angehörigen durch die Polizei statt, die in der Regel die Angehörigen konsequent von Medien und Öffentlichkeit abschirmt. So auch im Fall Arian. Nach meinen Beobachtungen haben sich etwa die Eltern nicht einmal öffentlich geäußert.
So wie Opfer von Gewalttaten Anspruch auf einen Opferanwalt auf Kosten des Staates haben, so sollten die Angehörigen in herausragenden Vermisstenfällen mit großer Medienpräsenz einen gesetzlichen Anspruch auf einen Krisenberater oder einen entsprechend erfahrenen Anwalt haben. Er sollte sie in persönlichen Fragen beraten, ihre Interessen wahrnehmen und auch mit der Öffentlichkeit und den Medien kommunizieren. Denn beide sind bei öffentlichen Fahndungen nach einer vermissten Person ganz besonders wichtig.
Die Polizei hatte im Fall Arian die Angehörigen abgeschottet. Dagegen steht natürlich die Erwartung der Öffentlichkeit und der Medien, auch Reaktionen von den Angehörigen zu erhalten.
Das ist insbesondere wichtig für den Fall, dass die Angehörigen anderer Meinung sind als die Polizei, etwa im Bereich der Kommunikation mit der Öffentlichkeit und den Medien. Weiterhin sind Angehörige in der Regel zum ersten Mal mit einer Vermisstsituation konfrontiert und befinden sich so in einer extrem hilflosen Situation.
Im Fall Arian gab es nur eine Facebook-Nutzerin „Doro VW“, die den Usern in Posts vermittelte, sie sei von den Angehörigen Arians autorisiert, Stellungnahmen in deren Namen abzugeben und Kontakte zu den Angehörigen zu vermitteln. Nach meiner Beobachtung fand allerdings keine entsprechende Kommunikation statt. Eine Anfrage von mir wurde nicht beantwortet. Auch andere Journalisten wurden offenbar nicht mit Informationen versorgt.
Mit dem amtlich festgestellten Tod des vermissten Jungen stehen die Eltern jetzt vor großen organisatorischen Aufgaben (Beerdigung u. a.), aber auch psychisch in der größten Krise ihres Lebens. Dieser Trauerprozess wird voraussichtlich Jahre dauern und muss unbedingt durch Gesprächstherapien begleitet werden.
Freunde, Klassenkameraden, Nachbarn: in der Gerüchteküche
Ein Anrecht auf Informationen hat nicht nur die breite Öffentlichkeit. Vor allem auch Spiel- und Klassenkameraden, entfernte Verwandten wie auch die Nachbarschaft und alle Anteilnehmenden in einer kleinen Gemeinde sollten umfangreich über das Geschehen informiert werden. Hier ist Information besonders wichtig, damit Gerüchten schon im frühen Stadium Einhalt geboten werden. Hierfür gibt es im Rahmen der Polizeiarbeit noch keine Vorgaben.
Es wäre aber notwendig, über die normale Pressearbeit der Polizei hinaus neue und erweiterte Informationsmöglichkeiten zu schaffen. In der Info-Flut von Social Media müssen Behörden daran interessiert sein, durch Fakten und fundierte Situationsdarstellungen umfangreich zu informieren.
Dies ist insbesondere zum Schutz der Angehörigen eines Vermissten notwendig: Immer wieder tauchen nämlich auch Gerüchte auf, dass Angehörige selbst mit dem Verschwinden der vermissten Person zu tun haben oder womöglich gar dafür gesorgt haben könnten. Oder durch Leichtsinn etwa das Verschwinden eines Kindes ermöglicht zu haben.
Die Polizisten: großes Engagement und kreative Suchmaßnahmen
Die Polizei hat die unangenehme Aufgabe, die Interessen und Intimität der Angehörigen des Vermissten zu wahren und gleichzeitig die Öffentlichkeit möglichst umfassend zu informieren und vor allem nach dem kleinen Jungen zu suchen. Ein fast unmögliches Unterfangen, wenn man es allen Beteiligten recht machen will. Die Polizisten sind nicht für Sozialarbeit ausgebildet und holen sich, wenn es gut läuft, Psychologen oder Seelsorger zur Unterstützung bei der Betreuung der Angehörigen. So auch im Fall Arian.
Vor allem kleinere Polizeidienststellen sind in der Regel von einer solchen Aufgabe überfordert. Es bedarf erfahrener Vermisstensuchexperten, um große Suchaktion wie die im Fall Arian zu organisieren und für eine geordnete Zusammenarbeit mit Helfern von Bundeswehr, Feuerwehr, DRK und anderen Organisationen zu sorgen. Im Fall Arian muss man den Organisatoren ein großes Kompliment machen. Sie haben – wie natürlich alle Suchhelfer – außergewöhnlich gute Arbeit geleistet.
Es hat sich auch herausgestellt, dass die Organisatoren und beteiligten Polizisten bei der Suche außergewöhnlich kreativ vorgegangen sind und ein ganz besonderes Engagement gezeigt haben.
All das hätte aber besser kommuniziert werden müssen. Medien und Öffentlichkeit wurden nur sehr sparsam mit Informationen etwa über die Organisation der Helfer, die Expertise der Verantwortlichen und andere Maßnahmen informiert. Auch bei der Information über den Fund einer Leiche war die Polizei zu zurückhaltend. Sie hätte detailliert erklären müssen, warum es beispielsweise mehrere Tage dauern könnte, bis die Identität festgestellt werden kann.
Vor allem ist Kritik daran zu üben, dass die Suchaktion zunächst nach einer Woche beendet wurde. Das hat die Öffentlichkeit wie auch Journalisten irritiert und verunsichert. Zumindest hätte die Polizei die Beendigung der Suchaktion ausführlicher erklären müssen.
Fortsetzung der Suche gefordert: Das schrieb Innenministerin Behrens zu mir zurück
Ich selbst habe mich nach Einstellung der Suchaktion in einer Mail an die Innenministerin Behrens des Landes Niedersachsen gewandt und um Fortsetzung der Suche nach Arian gebeten – und folgende (gekürzte) Antwort erhalten: „… Durch die Einrichtung der Ermittlungsgruppe (EG) Arian soll die Vermisstensuche mit einem reduzierten Personalkörper koordiniert und nicht weniger priorisiert durchgeführt werden. Die EG Arian wird durch Personen mit spezieller fachlicher Expertise in Vermisstenfällen unterstützt. Eingehenden Hinweisen wird gezielt nachgegangen. Um die Suche weiterhin mit einer hohen Intensität durchzuführen, wird nun erneut mit einem großen Personalkörper nach Arian gesucht. Es werden insbesondere Anwohnerbefragungen mit dem Ziel durchgeführt, neue Hinweise zum Verbleib des vermissten Kindes zu erlangen. Weiterhin ist bereits eine erneute Absuche der Oste mit speziellen Einsatzmitteln geplant …“
Helfer von Feuerwehr, DRK, Bundeswehr: Grenzenloser Einsatz
Bei der Suche nach Arian waren Hunderte Feuerwehrleute, Bundeswehrsoldaten, Rote Kreuz-Helfer und Mitarbeiter andere Organisationen beteiligt. Allein die Suche über acht und mehr Stunden in Wäldern und Feldern, in Gewässern und Gebäuden ist eine besondere Strapaze nicht nur wegen des Wetters (Kälte, Regen oder Hitze), sondern auch wegen der psychischen Belastung. Schließlich muss man in jeder Minute damit rechnen, dass man möglicherweise ein kleines Kind findet, dass nicht mehr lebt.
Die Helfer haben sehr viel Kraft und Engagement bewiesen, um das Kind zu finden. Mit dem Tod von Arian bricht auch für die Helfer und Helferinnen eine Welt zusammen. Tagelang hat man sich darauf konzentriert, ohne Rücksicht auf eigene Befindlichkeiten ein kleines hilfloses Kind zu suchen und zu finden. Nun wurde die verwesende Leiche von Arian gefunden. Auch manche Helfer benötigen jetzt mindestens Unterstützung durch Gespräche und Anteilnahme. Denn der Tod des kleinen Jungen ist letztlich eine Niederlage für alle Beteiligten.
Die Medien: Im Spannungsfeld zwischen News und Verantwortung
Die Medien haben bei der Berichterstattung über Vermisstenfälle eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe. Sie müssen – wie die Polizei – die Privatsphäre der Angehörigen beachten und gleichzeitig so viel Informationen wie möglich der Öffentlichkeit über den Fall vermitteln. Das führt immer wieder zu Konflikten zwischen Polizei und Journalisten, aber auch unangenehmen Situationen zwischen betroffenen Angehörigen und den Rechercheuren der Medien vor Ort.
Besondere Bedeutung haben, wie der Fall Arian zeigt, die Pressemitteilungen der Polizei. Hier sollte ein Umdenken stattfinden – mehr statt weniger. Journalisten benötigen umfangreiche tägliche Informationen über die Arbeit der Polizei und den Stand aller Ermittlung. Das beginnt mit detaillierten Erklärungen zur Organisation der Suchtrupps und endet nicht mit der Frage, wie die Verpflegung für 1000 Suchhelfer gesichert wird.
Die Journalisten haben sich, soweit ich das einsehen konnte, sehr verantwortungsvoll und engagiert verhalten. Aber man hat gemerkt, dass sie um jede Information im Verlauf der Suche nach Arian gerungen haben.
Follower, Leser*innen, Zuschauer: auf Spekulationen verzichten
Vor allem auf den Social Media-Portalen ist festzustellen, dass sich viele Follower etwa auf Facebook oder X mit Spekulationen an den Diskussionen um das Verschwinden des kleinen Jungen beteiligten. Auch werden schnell Vorwürfe gegenüber Journalisten laut, oder es wird pauschal am Staat kritisiert.
Dieses Verhalten führt zu einer starken Verunsicherung nicht nur der Beteiligten bei Polizei, Helfer-Organisationen wie auch Angehörigen und Nachbar, sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit, in der durch Spekulationen und Gerüchte schnell falsche Eindrücke etwa von polizeilichen Maßnahmen entstehen.
Auch hier kann eine seriöse Berichterstattung sowohl über die Medien online als auch über die Polizei online entgegenwirken. Es müssen aber genug Fakten und Informationen von den Pressesprechern der Polizei täglich herausgegeben werden. Daran fehlt es im Vermisstenfall Arian.