„Schlag ins Gesicht“ durch Selenskyj: Empörung über Ukraine-Gesetz – EU-Delegation wusste von nichts
In der Ukraine laufen Proteste gegen ein Gesetz Wolodymyr Selenskyjs. Auch der EU-Parlamentarier Daniel Freund sieht einen enormen „Rückschlag“.
Mit einer brisanten „Reform“ zur Korruptionsbekämpfung in der Ukraine hat Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht nur Proteste im eigenen Land ausgelöst – sondern ganz offensichtlich auch Finanzhilfen und den angestrebten EU-Beitritt in Gefahr gebracht. Das von Selenskyj erlassene Gesetz sei „ein Schlag ins Gesicht“ und verlange eine Reaktion von höchster Stelle, sagte Daniel Freund (Grüne) der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA am Mittwoch. Freund ist Ständiger Berichterstatter des Europaparlaments für Überwachung der EU-Finanzhilfen an die Ukraine.

Pikant: Freund und eine Delegation des Parlaments weilten am Dienstag zu Gesprächen in Kiew. Indes habe es auf ukrainischer Seite niemand für nötig gehalten, die Gäste über die Pläne zu informieren. Offenbar „im Fünf-Stunden-Eilverfahren“ seien „ganze Teile der seit den Maidan-Protesten aufgebauten Antikorruptions-Architektur zerstört“ worden, rügte der Grünen-Politiker im Gespräch mit unserer Redaktion.
Selenskyjs Korruptions-Gesetz: „Wasser auf die Mühlen von Putin und Orbán“
Das von Selenskyj am Dienstagabend unterzeichnete Gesetz unterstellt das nationale Antikorruptionsbüro und die Antikorruptions-Staatsanwaltschaft der Generalstaatsanwaltschaft – deren Chef wiederum ernennt der Präsident persönlich. Damit wird das Wirken der Behörden stark vom Staatschef persönlich abhängig. Selenskyj verwies auf „russische Einflüsse“ in den Einrichtungen. Freund betrachtet das allerdings als „hanebüchenes Argument“.
Womöglich sehe Selenskyj im Verweis auf russische Einflussnahme eine Art „Totschlagargument“. „Aber das hat überhaupt keine Glaubwürdigkeit“, betonte Freund, „das hält niemand für glaubwürdig.“ Der Grünen-Politiker fügte hinzu, der Schritt sei „Wasser auf die Mühlen all jener, die die europäische Unterstützung für die Ukraine untergraben wollen, ob sie nun Wladimir Putin oder Viktor Orbán heißen“. Nicht nur Putin bemüht sich, Selenskyj als illegitimen Präsidenten darzustellen. Ein Vorwurf, den die Ukraine mit guten Argumenten kontert – der durch politisch fragwürdige Schritte aber an Schlagkraft gewinnt.
Proteste in der Ukraine: Reaktion auf Selenskyj „von allerhöchster Stelle“ nötig
Abgesehen von solchen „weichen“ Effekten ist aber wohl auch handfester Druck aus Brüssel denkbar. Das Gesetz gefährde Finanzhilfen und sogar das EU-Beitrittsverfahren, warnte Freund. Auszahlungen aus der sogenannten Ukraine-Fazilität der EU etwa seien an konkrete Reformen gekoppelt. „Da muss nun eine Reaktion von allerhöchster Stelle kommen“, forderte Freund – etwa von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Ohnehin habe man bereits länger mit Sorge beobachtet, dass sich die Reform-Geschwindigkeit in der Ukraine verlangsame.

Auch in der Ukraine selbst gibt es Unmut und Entsetzen. „Heute wurde mit den Stimmen von 263 Abgeordneten die Infrastruktur zur Korruptionsbekämpfung zerstört“, sagte der Chef des nationalen Antikorruptionsbüros, Semjon Krywonos, der Agentur AFP zufolge. In Kiew demonstrierten noch am Dienstagabend Hunderte. Selenskyjs früherer Außenminister Dmytro Kuleba – nach Expertenansicht auch aus machtpolitischen Gründen entlassen – mahnte, Selenskyj habe nun die Wahl, „ob er sich auf die Seite des Volkes stellt oder nicht“.
„Ich bin sehr froh, dass sich Widerstand regt“, erklärte Freund dazu. Damit dürfte er in der EU nicht alleine dastehen. Die EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos sprach von einem „ernsthaften Rückschritt“ auf dem Weg der Ukraine zu einem EU-Beitritt. (fn mit Material von AFP)