Größter Auftragszuwachs seit 2020: Deutsche Industrie geht mit Rückenwind ins neue Jahr
Die deutsche Industrie konnte im Dezember den größten Auftragszuwachs seit über drei Jahren verbuchen. Dennoch sehen Experten und Firmen darin noch keine ernste Trendwende.
Berlin - Die deutsche Industrie hat im Dezember wegen der starken Nachfrage nach Flugzeugen überraschend den höchsten Auftragszuwachs seit rund dreieinhalb Jahren verbucht. Das Neugeschäft legte um 8,9 Prozent im Vergleich zum Vormonat zu, wie das Statistische Bundesamt am Dienstag mitteilte. Von der Nachrichtenagentur Reuters befragte Ökonomen hatten nur eine Stagnation erwartet. Zurückzuführen ist das kräftigste Plus seit Juni 2020 auf ungewöhnliche viele Großaufträge in einer Reihe von Branchen. „Insbesondere wurden außergewöhnlich viele Flugzeuge bestellt“, hieß es dazu. Ohne diese Effekte wären die Bestellungen um 2,2 Prozent gefallen.
„Eine Zahl wie ein verspäteter Silvesterböller“, kommentierte LBBW-Ökonom Jens Oliver Niklasch die unerwartete Entwicklung. „Damit konnte man nicht rechnen.“ Allerdings ist nicht alles Gold, was glänzt. „Die Produktion wird dank Großaufträgen über Wasser gehalten“, sagte der Chefvolkswirt der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank, Alexander Krüger. „Dass ohne Großaufträge nicht viel los ist, unterstreicht die unterliegende Schwäche der Industrie.“ Auch ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski rät dazu, die Daten „trotz der ersten Begeisterung mit einer großen Prise Salz“ aufzunehmen.
Keine guten Aussichten
Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) sieht ebenfalls keinen Anlass zu Euphorie. „Der Anstieg im Dezember ist leider noch keine Trendwende“, sagte DIHK-Konjunkturexperte Jupp Zenzen. Die Industrie spüre in ihren Auftragsbüchern sowohl die schwache Konjunktur im Inland als auch ein nach wie vor schwieriges weltwirtschaftliches Umfeld. Hinzu gesellten sich strukturelle Sorgen wie hohe Energiekosten sowie Bürokratielasten. „Das sind keine guten Aussichten für das laufende Jahr“, sagte Zenzen.
Die Bestellungen aus dem Inland stiegen im Dezember um 9,4 Prozent zum Vormonat. Die Auslandsnachfrage nahm um 8,5 Prozent zu. Ein Großteil der insgesamt positiven Entwicklung ist auf den Bereich sonstiger Fahrzeugbau (Flugzeuge, Schiffe, Züge etc.) zurückzuführen: Hier waren die Auftragseingänge im Dezember mehr als doppelt so hoch (+110,9 Prozent) wie im Vormonat. Hier stecken womöglich Rüstungsgeschäfte dahinter, sagte ING-Exerte Brzeski. Zusätzlich wirkten sich Großaufträge in den Bereichen Herstellung von Metallerzeugnissen (+18,0 Prozent) und bei den Produzenten von elektrischen Ausrüstungen (+38,7 Prozent) positiv aus. In den gewichtigen Bereichen Automobilindustrie (-14,7 Prozent), Maschinenbau (-5,3 Prozent) und chemische Industrie (-3,7 Prozent) ging das Neugeschäft dagegen zurück.
„Auftragsbestände schmelzen
Im vierten Quartal 2023 lag der gesamte Auftragseingang trotz des starken Dezembers nur um 0,1 Prozent höher als in den drei Monaten zuvor. Im Gesamtjahr 2023 fiel er sogar um 5,9 Prozent niedriger aus als 2022, weil etwa die schwache Weltkonjunktur und hohe Zinsen die Nachfrage nach Waren „Made in Germany“ belasten. „Betrachtet man den längerfristigen Trend, so ist die Auftragslage in der deutschen Industrie in den letzten zwei Jahren weiterhin rückläufig“, sagte ING-Experte Brzeski. „Es bedarf noch vieler weiterer positiver Daten, um eine deutliche Erholung der Wirtschaft zu signalisieren.“
Das Ifo-Institut attestiert der Industrie einen Auftragsmangel, der immer mehr zu einer Belastung für die deutsche Konjunktur zu werden drohe. Im Januar berichteten 36,9 Prozent der Industriefirmen von fehlenden Aufträgen, wie die Münchner Forscher bei ihrer monatlichen Umfrage herausfanden. Zum Vergleich: Ein Jahr zuvor lag der Anteil nur bei 20,9 Prozent. „Der Auftragsmangel hat sich im letzten Jahr merklich verschärft. Kaum eine Branche bleibt davon verschont“, sagte der Leiter der Ifo-Umfragen, Klaus Wohlrabe. „Zudem schmelzen die Auftragsbestände.“
Dass die Lage schwierig ist, zeigt auch die Entwicklung der Einnahmen. Der inflationsbereinigte Umsatz im Verarbeitenden Gewerbe sank im Dezember erneut, wenn auch nur um 0,1 Prozent zum Vormonat. Für 2023 insgesamt steht ein Mini-Plus von 0,3 Prozent zu Buche. (reuters, lf)