Kempten: Außenpolitikexperte Ingmar Niemann hält Frieden im Nahen Osten für eigentlich unmöglich

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Im Haus International sprach Ingmar Niemann über die Geschichte Israels und die aktuellen politischen Entwicklungen im Nahen Osten. © Elisabeth Brock

Kempten – In seinem Vortrag zur Staatsgründung Israels zeichnet Ingmar Niemann im Haus International in Kempten eine düstere Pro­gnose für den Nahostkonflikt, da vier zentrale Pro­bleme ungelöst seien.

Der Titel der im Frühjahr geplanten Veranstaltung klang noch verhalten positiv: „75 Jahre Israel – hat die einzige Demokratie im Nahen Osten endlich Chancen auf einen nachhaltigen Frieden?“ Doch der Hochschuldozent, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Ingmar Niemann hat seinen Vortrag im Haus International der alles überschattenden aktuellen Kriegssituation angepasst. Nach dem von der Hamas verübten Massaker am 7. Oktober blickt er pessimistisch auf das Land und schätzt die Friedenschancen negativ ein. Er geht das emotionale Thema heute zögerlich an und versucht, sachlich zu bleiben.

Vortrag blickt auf einmalige Staatsgründung Israels zurück

Den ersten Teil des Vortrags widmete Niemann der Gründungsidee des Staates Israel. Die von Theodor Herzl ins Leben gerufene Zionistenbewegung entstand aus dem Wunsch, der Bedrohung und Verfolgung als Dauerbelastung jüdischer Menschen zu entkommen und ihnen eine „Heimstätte in dem von Gott den Juden gegebenen Land“ zu verschaffen. Diese religiöse Begründung für einen Nationalstaat ist einmalig. Sicherheit und Eigenschutz ist die höchste Maxime des erst 1948 gegründeten Staates Israel. Er ist demokratisch und marktwirtschaftlich orientiert, innovations- und technikfreundlich.

Führung der Hamas ist schwer zu fassen

Eine Landkarte zeigt den Gaza-Streifen als winziges Gebiet mit minimalen Strukturen. Die Hamas ist ein Ableger der ägyptischen Moslembruderschaft, einer ursprünglich sozialen Organisation, die erst später politisch wurde. Das jahrzehntelange „Ränkespiel“ zwischen PLO/Al Fatah und Hamas hat der Zivilbevölkerung dort nur geschadet. Die Führung der Hamas sitzt im relativ sicheren Ausland und ist schwer zu fassen. Ägypten hält seine Grenzen geschlossen, weil es nicht von der Hamas infiltriert werden will.

Terrororganisation hat alle ihre Ziele erreicht

Das „Iron Dome“-System, die „Eisenkuppel“ über Israel war bislang ein relativ gut funktionierender Schutz vor Raketenangriffen aus dem Gaza-Streifen. Doch als innerhalb weniger Stunden circa 4.000 Raketen abgefeuert wurden, war das Abwehrsystem überfordert – der Staat erwies sich als sehr verletzlich: „Masse schlägt Technologie.“

Staatschef Benjamin Netanjahu habe diese Tatsache unterschätzt, weshalb sich die Bevölkerung zunehmend von ihm distanziert. Ziel der Hamas war es, Israels Sicherheitsgefühl zu unterlaufen und weg zu bomben. Sie wollte Israel vor aller Welt demütigen und die Annäherung zwischen arabischen Staaten und Israel unterbrechen. „Die Hamas hat bereits alle Ziele leider, leider, leider mit aller Grausamkeit erreicht“, so Niemann.

Er sieht Veränderungen im Machtgefüge des Nahen Ostens. China sei enorm aktiv in der Region und stärker als je zuvor, was Europa bislang nicht wirklich realisiert hat. Katar betrachtet er als Mega-Player, als Gestaltungsmacht, Katar sei auch der Schlüssel in der Geiselfrage. Niemann wirft einen globalen Blick auf den Konflikt und kommt zu dem Schluss, dass Europa nur symbolisch reagieren kann. „Es besteht das hohe Risiko der Eskalation – China entscheidet!“

Keine Lösungen für die Probleme in Sicht

Die Frage, ob Frieden möglich sei, beantwortet Niemann mit „eigentlich nein“. Er macht vier nahezu unlösbare zentrale Probleme aus: Das Siedlungsgebiet, die Hauptstadtfrage, die Wasserversorgung und die Flüchtlingsfrage. Die Ausweitung des Siedlungsbaus unter Netanjahu hat das Palästinensergebiet zerstückelt und verhindert eine Zwei-Staaten-Lösung. Für Jerusalem mit seinen religiösen Stätten der zwei Religionen ist kein Kompromiss denkbar, die Verhandlungen sind im Jahr 2000 gescheitert.

Die Wasser-Landkarte zeigt, dass die Versorgung immer schwieriger wird, der See Genezareth trocknet aus, weil zu viel Wasser abgezogen wird. Für Israel und das angrenzende Jordanien ist Wasser jedoch eine Frage der Überlebensfähigkeit. Auch für das Flüchtlingsproblem ist keine Lösung in Sicht.

Mit Krieg ist nichts zu gewinnen

„Israels instabile Stabilität zusammen mit der palästinensischen Instabilität bilden eine politisch schwierige Gemengelage“, sagt Niemann. Er sieht Israel als politisch geteiltes Land; Jerusalem sei zu einer enorm religiösen Stadt geworden. Die hohe Fertilitätsrate sowohl der streng orthodoxen Israelis als auch der Bevölkerung im Gaza-Streifen verschiebe das Gleichgewicht zu ihren Gunsten. Keine Seite sei kompromissbereit, beide müssten erst begreifen, dass mit Krieg, dem auf beiden Seiten viele Unschuldige zum Opfer fallen, nichts zu gewinnen sei.

Der Referent schloss dennoch positiv mit dem Satz von Herzl „Wenn ihr es wollt, ist es kein Märchen“. Damals, im Jahr 1897, bezog er sich auf die Heimstätte für jüdische Menschen, heute auf den Frieden zwischen Israel und Palästina. Bei der Diskussion mit dem großen Publikum war der Redebedarf offensichtlich. Angesprochen wurden unter anderem die Chancen israelisch-palästinensischer Friedensaktivitäten und einer Zwei-Staaten-Lösung. Für Niemann sind beide Initiativen gescheitert, haben zumindest schlechte Perspektiven.

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