Wegen Künstlicher Intelligenz: Japan erlebt Atomkraft-Revival – trotz Fukushima-Katastrophe
Nach der Katastrophe von Fukushima schaltete Japan alle Atomkraftwerke ab. Jetzt will das Land neue Meiler bauen. Denn der Energiebedarf steigt.
Was für eine Mammutaufgabe es ist, das havarierte Atomkraftwerk Fukushima stillzulegen, lässt sich an dieser Zahl ablesen: Winzige 0,7 Gramm Brennstoff holte die Betreiberfirma Tepco Ende November aus dem Inneren eines der zerstörten Reaktoren, eine Menge kaum größer als eine Murmel. Mehrere Jahre Vorbereitung hatte Tepco für die komplexe Bergungsaktion benötigt. Rund 880 Tonnen an radioaktivem Material befinden sich Schätzungen zufolge noch in den Reaktoren, erst in einem Vierteljahrhundert sollen die Aufräumarbeiten abgeschlossen und das Atomkraftwerk an Japans Ostküste stillgelegt sein.
Die Atomkatastrophe vom 11. März 2011, als ein Seebeben und ein darauffolgender Tsunami die vier damals aktiven Reaktorblöcke im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi zerstörten, war eine Zäsur für Japan. Ein ganzer Landstrich wurde verstrahlt, Zehntausende Menschen verloren ihre Heimat, alle japanischen Atomkraftwerke wurden nach und nach vom Netz genommen und überprüft. Zumindest kurz zeigte sich damals, dass eine Wirtschaftsweltmacht wie Japan ohne Atomkraftwerke auskommen kann. Doch anders als Deutschland stieg Japan aus der Atomkraft nicht aus.
Nach der Fukushima-Katastrophe nimmt Japan immer mehr Atomkraftwerke in Betrieb
Bereits 2015 wurde erstmals seit der Katastrophe wieder ein Kernkraftwerk in Betrieb genommen, zuletzt begann Tepco in diesem Frühjahr damit, das größte Atomkraftwerk des Landes, die Anlage Kashiwazaki-Kariwa, wieder hochzufahren. Heute sind in Japan 13 Reaktoren am Netz, vor dem 11. März 2011 waren es 54. Die Meiler haben vor der Katastrophe rund ein Drittel des japanischen Strombedarfs gedeckt, heute sind es neun Prozent.
Dutzende Reaktoren könnten also jederzeit wieder in Betrieb genommen werden. Insgesamt liegt derzeit eine Kapazität von 24 Gigawatt an ungenutzter Atomkraft brach. Ein Potenzial, das Begehrlichkeiten weckt. Vor allem Datenzentren haben es auf die schlummernden Energiekapazitäten abgesehen. Denn der zunehmende Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) verschlingt immer größere Mengen an Strom.

Laut der Internationalen Energieagentur (IEA) haben Rechenzentren im Jahr 2022 zwei Prozent des weltweit produzierten Stroms verbraucht, bis 2026 werde der Bedarf wegen der immer weiter verbreiteten KI-Nutzung um 35 bis 128 Prozent steigen. Für Japan schätzt die Regierung in Tokio, dass der Strombedarf bis 2050 um 35 bis 50 Prozent steigen werde; Haupttreiber seien Chipfabriken und KI-Rechenzentren. Bis zum Jahr 2030 soll deshalb der Anteil der Kernkraft am japanischen Strommix auf 22 Prozent erhöht werden.
Japans neuer Premier war einst Atomkraftkritiker
Widerstand gegen diese Pläne kommt von Umweltaktivisten. „Die Kernenergie birgt hohe Risiken durch die mögliche Freisetzung von Radioaktivität, und die Endlagerung von Atommüll ist nicht geklärt. Außerdem ist Kernenergie sehr teuer und braucht eine lange Zeit bis zur Genehmigung“, sagt Hisayo Takada, Projektmanagerin von Greenpeace Japan, zu IPPEN.MEDIA.
Mit Shigeru Ishiba wurde Anfang Oktober zwar ein Mann neuer japanischer Premierminister, der sein Land eigentlich unabhängiger von Atomkraft machen wollte. Als einziger Kandidat für das Amt hatte er sich in der Vergangenheit als Atomkraftkritiker positioniert, in der traditionell sehr wirtschaftsfreundlichen Liberaldemokratischen Partei (LDP), die Japan seit 1955 fast ununterbrochen regiert, stand Ishiba mit dieser Haltung ziemlich alleine da.
Schon in seiner ersten Rede als Premier aber klang der Politiker auf einmal ganz anders. „Die Gewährleistung einer stabilen und sicheren Energieversorgung ist ein dringendes Anliegen“, erklärte Ishiba drei Tage nach seiner Wahl. „Angesichts des stark steigenden Strombedarfs im Zeitalter der künstlichen Intelligenz werden wir die Energieautarkie verbessern und gleichzeitig die Dekarbonisierung vorantreiben.“ Möglich sei das nur durch „Nutzung der Kernenergie unter der wichtigen Prämisse, dass die Sicherheit gewährleistet ist“. Ishibas Energieminister Yoji Muto bezeichnete Energiesicherheit als „wichtigsten Pfeiler des japanischen Wachstums“.

Japans Regierung will die Lebensdauer alter Meiler verlängern und neue Reaktoren bauen
Auch die USA werben für mehr Atomstrom. „Ich glaube, dass Atomkraft eine wichtige Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft sind“, sagte Rahm Emanuel, US-Botschafter in Tokio, unlängst dem Wall Street Journal. Und die Washingtoner Denkfabrik Atlantic Council forderte im August: „Um sein Wirtschaftswachstum und seine Wettbewerbsfähigkeit voranzutreiben, muss Japan die Wiederinbetriebnahme seiner bestehenden Reaktorflotte fortsetzen und sich zum Bau fortschrittlicher Reaktoren der nächsten Generation verpflichten.“
Die Lobbyarbeit funktioniert: Japans Regierung will die Lebensdauer alter Meiler verlängern und neue Reaktoren bauen. Und das in einem Land, das so anfällig für Erdbeben ist wie kaum ein zweites. Zuletzt bebte am Neujahrstag auf der Noto-Halbinsel die Erde, mehr als 400 Menschen starben, erstmals seit 2011 wurde wieder eine Tsunami-Warnung ausgegeben. Die betroffene Region liegt nur rund 150 Kilometer von der riesigen Atomanlage Kashiwazaki-Kariwa entfernt.
Japan sieht die Kernenergie auch als Weg zur Klimaneutralität. Ein Argument, das nicht alle überzeugt. „Der Ausbau der erneuerbaren Energien und die Steigerung der Energieeffizienz wären der bessere Weg“, sagt Atomkraft-Kritikerin Takada, „auch für die Rechenzentren.“ Sie plädiert für mehr Offshore-Windkraft, diese habe in Japan „großes Potenzial“. Doch Erneuerbare Energien haben im japanischen Energiemix derzeit einen Anteil von nur rund 25 Prozent, halb so viel wie in Deutschland. Ihr Anteil soll bis 2040 laut einem unlängst vorgestellten Regierungsplan auf 40 bis 50 Prozent steigen.
Präfektur Fukushima plant die Energiewende
Aktuell kommt der meiste Strom in Japan aus Gas- und Kohlekraftwerken. Das ist nicht nur schlecht fürs Klima. Auch macht sich das ressourcenarme Japan, das stark auf den Import von Energieträgern angewiesen ist, angreifbar. Vor allem angesichts des Konflikts mit China und eines möglichen Kriegs um Taiwan werden solche Fragen zunehmend brisant. Denn Handelswege lassen sich abschneiden, Wind- und Sonnenkraftwerke hingegen sind autark.
Ausgerechnet in der Präfektur Fukushima hat man ehrgeizigere Pläne gefasst als der Rest des Landes: Schon 2040 soll hier sämtliche Energie aus erneuerbaren Quellen kommen.