Bademeister nachdenklich: Ich sehe Menschen, die immer erschöpfter werden

In den letzten Jahren ist mir eines immer häufiger aufgefallen: Egal ob in großen Thermen, kleinen städtischen Anlagen oder ganz normalen Saunen – die Plätze werden voller. Manche Aufgüsse sind schon vor Öffnung überlaufen, Ruheräume sind dicht besetzt, und selbst an Tagen, an denen früher kaum jemand kam, sitzen heute Reihen von Menschen nebeneinander. 

Und während gerade mehrere neue Saunalandschaften eröffnen – wie zuletzt in Rheinland-Pfalz oder große modernisierte Bereiche in München – frage ich mich oft, warum dieser Ansturm ausgerechnet jetzt passiert.

Aus meiner Sicht hat es wenig mit „Wellness“ zu tun. Es hat viel mit dem Zustand unserer Gesellschaft zu tun.

Die Menschen sind erschöpfter als früher

Ich höre oft, Sauna sei Luxus. Ich sehe das völlig anders. Wenn man seit Jahren in Bädern arbeitet, erkennt man schnell ein Muster: Die Menschen sind erschöpfter als früher. 

Nicht körperlich, sondern mental. Viele kommen mit einem Gesichtsausdruck, der viel sagt, ohne dass ein Wort fällt.

Der Ablauf ist für viele ein Anker

Sie brauchen Ruhe, nicht Erlebnis. In der Sauna gibt es genau das. Keine Handys. Kein Lärm. Kein ständiges Reagieren. Das ist heute selten geworden. Und genau deshalb kommen die Leute.

Was ich immer wieder beobachte: Der Ablauf ist für viele ein Anker. Reingehen. Hinsetzen. Schwitzen. Rausgehen. Duschen. Ruhen. Es ist vorhersehbar, es überfordert niemanden, es gibt klare Abfolgen.

Ich glaube, viele haben draußen längst den Überblick verloren. Termine, Nachrichten, Druck, ständige Erreichbarkeit. In der Sauna gibt es nichts davon. Die Regeln sind einfach und verständlich. Und das alleine wirkt für viele schon wie Entlastung.

In der Sauna müssen Menschen nicht funktionieren – und das merkt man

Was mir besonders auffällt: In der Sauna wird niemand beobachtet, niemand bewertet. Es gibt keine Kleidung, keine Marken, keine Abzeichen, an denen man sofort erkennt, wer welchen Status hat.

Alle sind gleich – wirklich gleich. Und das nimmt vielen den Druck. Man muss nichts leisten, man muss nicht glänzen, man muss nicht etwas darstellen.

Viele sind heute gestresst, angespannt, manchmal sogar aggressiv

Ich sehe Menschen, die draußen im Alltag stark wirken, aber drinnen zum ersten Mal seit Tagen einfach nur sitzen.

Ich arbeite in einem Bereich, in dem Rücksicht oft fehlt. Am Beckenrand, in Schwimmhallen, bei Familien – viele sind heute gestresst, angespannt, manchmal sogar aggressiv. In der Sauna ist das anders. Ich sehe dort Dinge, die draußen selten geworden sind:

- ein Mann, der leise Platz macht

- eine Frau, die unaufgefordert die Tür schließt

- ein junges Paar, das merkt, dass jemand schlafen will und sofort leise wird

Das klingt banal. Ist es aber nicht. Weil genau diese kleinen Gesten dafür sorgen, dass der Raum funktioniert.

Viele Betreiber sagen, die Nachfrage sei so hoch wie nie

Wenn man sich anschaut, was gerade in Bad Dürkheim oder München entsteht – moderne Saunahäuser, große Aufgüsse, ruhige Außenbereiche – sieht man: Die Menschen nutzen diese Räume sofort.

Und es ist nicht nur der Komfort. Es ist das Gefühl, dort kurz rauszufallen aus dem Tempo draußen. Viele Betreiber sagen, die Nachfrage sei so hoch wie nie. Ich glaube das sofort. Weil die Gesellschaft seit Jahren keine Pausen mehr hat.

Die Gäste wollen keinen Zauber – sie wollen Normalität

Was ich oft höre: „Ich brauche hier einfach mal Ruhe.“ Das meinen Menschen nicht als Floskel. Das meinen sie wortwörtlich. Ich habe viele Saunarunden beobachtet, die völlig unspektakulär waren – kein Show-Aufguss, kein Entertainment, kein Event.

Und trotzdem sind genau diese Runden die vollsten. Die Menschen wollen einfache, klare Ruhe. Kein Druck, kein Programm.

Wenn ich sehe, wie Gäste in der Sauna miteinander umgehen, denke ich oft: So könnte es überall funktionieren – wenn man wollte. Nicht überfreundlich, nicht künstlich, einfach normal.

Keiner schubst, keiner drängelt, keiner schreit, keiner fordert. Es ist einer der wenigen Orte, an denen Menschen für ein paar Minuten ihren Stress nicht auf andere übertragen.

Was für mich bleibt:

Nach vielen Jahren im Bäderbereich bleibt für mich ein Satz, den ich oft wiederhole: Sauna läuft, weil die Menschen dort für einen Moment wieder normal werden. Nicht besser, nicht perfekter – normal. Und vielleicht ist das der echte Grund, warum Saunen heute voller sind als je zuvor: Weil viele Menschen im Alltag keinen einzigen Ort mehr haben, an dem sie nicht funktionieren müssen.

Ralf Großmann wuchs im Schwimmbad auf und lebt Bäderbetrieb seit Kindheitstagen. Auf H2ohero.de teilt er seine Erfahrung aus deutschen Bädern – authentisch, alltagsnah und mit Herz für Sicherheit und Qualität. Er ist Teil unseres Experts Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.