Interview mit Ralph Thiele - „Im Ukraine-Krieg stehen wir vor drei großen Showdowns“

FOCUS online: Herr Thiele, laut einem Bericht der italienischen Zeitung „La Repubblica“ könnte Russland zu einem Großangriff auf die ukrainische Hafenstadt Odessa ansetzen. Halten Sie das für realistisch?

Ralph Thiele: Es lässt sich zumindest nicht ausschließen. Putin könnte versuchen, das brüchige ukrainische Verteidigungssystem durch multiple Angriffe zu überfordern.

Auf einem nahezu transparenten Gefechtsfeld, auf dem jede Seite durch Drohnen erkennen kann, wer sich wo mit welchen Kräften bewegt, wäre das wohl ein blutiges Unterfangen für Russland.

Die Erfahrung zeigt allerdings, dass drohende Verluste den Kreml-Chef nicht davon abhalten, anzugreifen. Ich könnte mir eine solche Attacke als mehrdimensionale Operation vorstellen, die von Spezialkräften, Luftstreitkräften, Cyber- und elektronischen Angriffen flankiert wird.

Was macht Odessa zu einem attraktiven Ziel für Putin?

Odessa spielt für Russland eine wichtige Rolle. Die Hafenstadt ist zentral für den Schutz der Festlandsverbindung zur Krim, die Operationsfreiheit im Schwarzen Meer und die Nutzung der Halbinsel als wirtschaftliche und militärische Basis. Würde Russland Odessa erobern, wäre die Ukraine außerdem von einem wichtigen wirtschaftlichen und militärischen Knotenpunkt abgeschnitten.

„Wir stehen an einem Scheideweg“

Kann die Ukraine Odessa auf lange Sicht verteidigen?

Bislang stellen sich die russischen Streitkräfte – anders als in Verteidigungsoperationen – in offensiven Manövern schwerfällig und unbeholfen an. Dafür bringen sie Massen an Personal und Material in den Einsatz. Das bleibt am Ende nicht ohne Wirkung.

Die Ukraine ist jetzt schon in den Kategorien Personal, Munition, Luftverteidigung und elektronische Kampfführung überfordert. Wenn es zu weiteren, größeren russischen Angriffen an anderen Frontabschnitten kommt, wird die Verteidigung Odessas zur Herausforderung.

Eine EU-Quelle sagte der „Repubblica“ zum Odessa-Szenario: „An diesem Punkt wäre die Debatte über die Entsendung von Soldaten zur Unterstützung der Ukraine nicht mehr theoretisch, sondern würde sehr konkret werden. Und wir Europäer würden Gefahr laufen, uns zu spalten.“

Mit dem bisherigen Kriegsverlauf stehen wir an einem Scheideweg. Verschiedene Staaten schlagen mehr oder weniger ernsthaft ein konkretes Engagement der Nato mit Truppen in der Ukraine vor. Andere setzen darauf, dass beim Juli-Gipfel der Nato in Washington der Weg für eine Mitgliedschaft der Ukraine im Verteidigungsbündnis freigemacht wird.

Beides wäre vermutlich ein Casus Belli – also ein Grund für Putin, dem Westen den Krieg zu erklären. Es überrascht mich, dass sich zahlreiche Entscheidungsträger und politisch-militärische Kommentatoren von einem solch bellizistischen Ansatz nicht abschrecken lassen.

Wie sehen Sie das?

Wer so denkt, erwartet, dass Putin umfällt. Ich halte das für ein riskantes Pokern mit dem Leben und der Zukunft unserer Bevölkerung, die diesen Weg in Umfragen ausdrücklich nicht gehen will. In der Ukraine bekommt man sowohl an der Front als auch in der Etappe täglich vor Augen geführt, welches Leid mit einem kriegerischen Ansatz einhergeht.

Dass ausgerechnet die, die sich für ein größeren Engagement in der Ukraine aussprechen, die eigene Verteidigungsfähigkeit sträflich vernachlässigen, passt überhaupt nicht ins Bild. Wer soll uns helfen, wenn das mit der Ukraine schiefgeht und wir uns selbst nicht schützen wollen und können?

„Drei Showdowns kündigen sich an“

Glauben Sie denn, dass es dieses Jahr im Ukraine-Krieg zu einer entscheidenden Wende kommen wird?

Es wird auf jeden Fall ernst. Drei Showdowns kündigen sich an. Erstens: Hält die ukrainische Front – gegen den russischen Ansturm, innenpolitisch um Präsident Selenskyj, aber auch auf Seiten der westlichen Unterstützer?

Zweitens: Welche Richtung nimmt der Gipfel in Washington – mehr Diplomatie wagen, russische Vorbehalte ernst nehmen oder weitermachen ohne Rücksicht auf Verluste, einschließlich einer ukrainischen Nato-Mitgliedschaft? Drittens: Trump ante portas – hat er einen Deal in der Schublade?

Die Lage spitzt sich also zu.

So ist es. 2024 dürfte nicht nur für die Ukraine ein Jahr der Entscheidungen werden. Auch Deutschland muss sich Gedanken machen. Wir sollten es nicht zum Äußersten kommen lassen.

Was genau meinen Sie?

Zum einen den weitgehenden Zusammenbruch der Ukraine mit großen Flüchtlingsbewegungen sowie einem sich entfaltenden Partisanenwiderstand. Zum anderen eine direkte Konfrontation mit Russland durch eine Kriegsbeteiligung von Nato-Truppen.

Wie brenzlig ist die Lage für Europa insgesamt?

Das größte Problem der vergangenen beiden Jahre ist, dass wir keine eigene Strategie entwickelt haben. Wir haben bislang nicht spezifiziert, wie wir Frieden und Stabilität in Europa wieder herstellen wollen. Welche Zukunft wir für die Ukraine und Russland in einer europäischen Friedensordnung sehen. Wie wir dieses Ziel erreichen und welche Mittel – über Panzer und Munition hinaus - wir dafür bereitstellen wollen. Was ist mit Politik, Wirtschaft und Diplomatie?

Sie klingen besorgt.

Der Ukraine diese Entscheidung - auch für die Zukunft der Deutschen und Europas - zu übertragen und überlassen, ist billig. Die Ukraine kann nicht unsere Demokratie, unsere Freiheit und unseren Rechtsstaat verteidigen. Weil wir hierfür zu wenig Vorbereitungen treffen, wird es brenzlig.