Plötzlich Millionen neue Deutsche?
Guten Morgen liebe Leserin, lieber Leser,
seit Wochen schon dreht die Ampel sich um sich selbst. Alle Aufmerksamkeit und Kraft gehen dafür drauf, die Finanzkrise zu lösen und endlich zurück ins geordnete Regieren zu kommen.
Doch währenddessen steht das Parlament nicht still. Große Gesetzesvorhaben laufen, die dazu taugen, Deutschland zu verändern. Zu einem besonders gewichtigen Entwurf werden an diesem Montag ab 14 Uhr Experten im Innenausschuss gehört – und man kann nur hoffen, dass die Regierenden die Zeit finden, gut zuzuhören.
Es geht um den Gesetzentwurf zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts, abgekürzt StARModG genannt. Trocken klingt dieser Titel, nach Verwaltungskram, unsexy, gähn. Doch dahinter verbirgt sich eine kleine Revolution. Und zwar in der für Deutschland sehr großen und hart umkämpften Frage: Wer darf deutsch sein?
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Das Gesetz könnte tief in das Leben von Millionen Menschen eingreifen und Deutschland Millionen neue Wähler bringen. Es könnte auch Mehrheiten, ja, sogar das Parteiengefüge im Bundestag, so wie wir es kennen, verändern. Beunruhigend ist deswegen, dass in der Öffentlichkeit bisher so wenig darüber gesprochen wurde und Experten eindringlich vor möglichen Folgen warnen.
Die zwei wichtigsten Maßnahmen der Reform: Die Bundesregierung will Mehrstaatigkeit zulassen und die Wartezeit für die Einbürgerung von acht auf fünf Jahre verkürzen. Menschen, die seit Jahren hier wohnen, gut Deutsch sprechen und ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten, sollen profitieren und leichter deutsche Bürger werden können. Und das betrifft viele: Laut Gesetzentwurf leben 12,3 Millionen Menschen ohne deutschen Pass hier, davon 5,3 Millionen seit mehr als zehn Jahren.
Zwei Sorgen stehen aber zurzeit mit Blick auf die Ampelpläne im Raum. Die erste bezieht sich auf die Mehrstaatigkeit, also auf die für manche Gruppe neue Chance, zwei Pässe haben zu dürfen und ganz offiziell zwei Staaten anzugehören.
"Die Möglichkeit zur Mehrstaatigkeit ist für viele attraktiv, wir werden schon jetzt oft danach gefragt", erklärte mir Peter Schlotzer im Gespräch. Er ist Dozent für Staatsangehörigkeitsrecht und leitet eine große Einbürgerungsbehörde. Besonders groß sei das Interesse an der Mehrstaatigkeit bei türkischen Staatsangehörigen, die sich bisher zwischen dem türkischen und dem deutschen Pass entscheiden müssen, sagt der Mann aus der Praxis.
Dabei ist wichtig zu wissen: Schon jetzt haben in Deutschland Menschen aus vielen Ländern die Möglichkeit, eine doppelte Staatsbürgerschaft zu haben. Das gilt für Bürger aus der Schweiz sowie den 26 anderen Ländern der EU. Aber auch Menschen, deren Heimatländer es gar nicht ermöglichen, ihre Staatsbürgerschaft abzugeben, dürfen in der Regel neben dem deutschen einen weiteren Pass besitzen – dazu zählen 25 weitere Staaten, darunter Syrien, Afghanistan, Tunesien, Marokko, Thailand, Brasilien, Mexiko, Ecuador, Algerien und Argentinien.
Für ein Viertel aller Staaten weltweit also besteht die Chance schon, wenn auch zum Teil zwangsweise. In die Röhre schauten bisher Menschen aus der Türkei, die in Deutschland besonders stark vertreten sind und die Wirtschaft in Deutschland seit den 70er-Jahren stützen.
Das zu ändern scheint nicht weniger als recht und billig. Doch die Mehrstaatigkeit für alle kann in den nächsten Jahren Folgen haben, die von dem Papier mit dem hölzernen Titel StARModG nicht genannt werden: Die neuen Deutschen könnten bei Wahlen ganz neue Kräfte befeuern.
Die Union warnt schon jetzt ebenso wie vereinzelte Experten vor neuen Chancen für Parteien, die den politischen Islam in Deutschland forcieren oder der türkischen Regierungspartei AKP nahestehen. Für Autokraten wie den türkischen Präsidenten Erdoğan wäre das ein Traum: Einfluss auf Deutschland und die EU zu haben, aus dem Ausland für Wirbel und Instabilität sorgen zu können.
Wie realistisch das ist, lässt sich nicht sagen. Es fehlen belastbare Zahlen zu den Doppelpass- wie den Wahl-Absichten. Ebenso wie es AKP-treue Türken in Deutschland gibt, gibt es auch jene, die Erdoğan und dem politischen Islam kritisch gegenüberstehen. Schon jetzt stammen übrigens die meisten Menschen, die neu eingebürgert werden, aus muslimischen Ländern wie Syrien, dem Irak oder Afghanistan – ohne dass sich bisher eine neue islamische Partei gegründet hätte.
Klar aber ist, dass die deutschen Parteien umdenken müssen, wollen sie nicht überrascht werden von den Geistern, die sie selber riefen. Bisher nämlich vergessen sie nur zu gerne jene Gruppen, die an den Wahlurnen keine Macht haben – Kinder und Jugendliche können davon ein trauriges Lied singen. Wollen sie die Stimmen der neuen Deutschen, müssen sie ihnen auch zuhören, sie adressieren, sich wirklich für ihre Belange einsetzen. Eine große, neue Aufgabe für die Parteizentralen. Bisher scheint das allerdings kaum bewusst, geschweige denn in Arbeit.
Das gilt auch für ein weiteres Problem, das der Gesetzentwurf für die Reform in sich trägt. Bei der Regelung dazu, wer in Zukunft in fünf statt acht Jahren eingebürgert werden kann, besteht unter Experten noch große Verwirrung. Der Gesetzestext nämlich schließt bisher wichtige Gruppen plötzlich aus – und andere ein, was aus Experten-Sicht wenig Sinn ergibt, wie Peter Schlotzer erklärt.
Das gilt zum Beispiel für die Formulierungen zur Unterhaltssicherung. Nach der jetzigen Fassung wären auch Schüler, Behinderte, Alleinerziehende grundsätzlich von der Einbürgerung ausgeschlossen, weil sie nicht voll arbeiten können und Unterstützung vom Staat erhalten – mögen ihre Gründe dafür auch noch so gut sein. Auf der anderen Seite sollen Ehepartner von Vollzeitarbeitenden, die ein Kind haben, einfach und leicht eingebürgert werden, ohne dass sie sich überhaupt um Arbeit bemühen müssen.
Das ist unfair, unsozial und auch für Praktiker nicht nachvollziehbar. "Der Teufel steckt im Detail", warnt Peter Schlotzer. "Wenn das Gesetz in der jetzt diskutierten Form kommt, ist das eine gravierende Änderung."