Die Szenerie ist gespenstisch: Mehrere Dutzend schwarz vermummte Männer ziehen durch die Straßen und skandieren auf Türkisch „Intikam“, zu Deutsch „Rache“. So sieht es neuerdings aus, wenn Bandenmitglieder öffentlich ihre Macht demonstrieren. Die Bilder stammen von einem Überwachungsvideo, das im vergangenen Herbst im Stuttgarter Stadtteil Vaihingen aufgenommen wurde.
Die Aufnahmen liegen dem Stuttgarter Polizeipräsidium vor und sind Ausdruck einer neuen, unfassbaren Dimension der Gewalt, die derzeit das Umland der baden-württembergischen Landeshauptstadt erfasst.
Zu sehen sind die Aufnahmen in einer ZDF-Dokumentation, die Einblicke in einen Stuttgarter Bandenkrieg gibt und sich auf Spurensuche begibt. Reporterin Eva Schiller hat dafür Ermittler begleitet und mit Betroffenen und Sozialarbeitern aus der Region gesprochen, in der sich seit Sommer 2022 eine Schießerei an die andere reiht. Es gab mehrere Tote und Verletzte.
Es dauerte lange, bis die Polizei erkannte, dass die Straftaten zusammenhingen und sich in und um Stuttgart zwei verfeindete Banden bekämpften. Staatsanwaltschaft und Polizei benennen sie inzwischen nach den Orten, in denen sie dominieren. Die eine Gruppe wird den Städten Esslingen, Plochingen und Ludwigsburg zugeordnet. Die andere Gruppe dem Stuttgarter Stadtteil Zuffenhausen und Göppingen. Noch stehen die Ermittler am Anfang ihrer Erkenntnisse.
„Die Männer sind 18 bis 28 Jahre, multiethnisch, fast alle haben einen Migrationshintergrund“
Doch ZDF-Reporterin Schiller will verstehen, wer die Täter sind und was sie antreibt. Sie erzählt die Geschichte rivalisierender junger Männer, die um Territorium, Macht und Respekt kämpfen. Jede Tat der einen Gruppe wird von der anderen brutal bestraft.
„Wir bezeichnen es als Kriminalität als Lebensentwurf, crime as a lifestyle. Die Männer sind 18 bis 28 Jahre, multiethnisch, fast alle haben einen Migrationshintergrund. Die meisten stammen aus bildungsfernen Milieus“, erklärt Andreas Stenger, Chef des Landeskriminalamts (LKA) im Interview mit der Reporterin. Anders als in Berlin oder Köln eint die jungen Männer kein Clan, keine Nationalität, sondern der Kick.
Etwa 500 junge Männer umfasst allein der schnell wachsende Kern der Banden. Es geht um Ehre und Respekt. „Das ist das, was ich als 'toxischen Ehrbegriff' und 'gewalt-legitimierende Männlichkeit' beschreibe“, so der LKA-Chef weiter. Drogenhandel, aber auch andere Straftaten dürften eine Rolle spielen. Teile der Gruppen bestreiten ihren Lebensunterhalt mit Kriminalität.
Inzwischen versuchen 60 Ermittler herauszufinden, wann und wo es das nächste Mal knallt. Klar abgegrenzte Reviere gebe es nicht, sagt der Stuttgarter Polizeipräsident Markus Eisenbraun, der ebenfalls in der ZDF-Dokumentation zu Wort kommt. „Das heißt, es ist nie klar, wo die nächste Aktion erfolgt und wer diese begeht. Jeder hat auf seinem Konto noch vermeintlich etwas offen.“
Rapper wie Eska und Dardan als Vorbilder
Vorbilder der verfeindeten Gruppe sind offenbar Rapper wie Eska und Dardan. Um zu verstehen, wie die Männer ticken, wertet die Polizei deshalb auch deren Youtube-Videos aus. In einem Video etwa hat Dardan eine Bande junger Männer um sich geschart. Sie halten Fotos von verurteilten Bandenmitgliedern in die Kamera. Dardan rappt dazu „Freiheit für M., Freiheit für U.“. Eine Anfrage der ZDF-Reporterin Schiller an das Mangement zu dem Video bleibt jedoch unbeantwortet.
Was die Rapper singen, übertragen ihre Anhänger offenbar auf die Straßen in und um Stuttgart. Wie weit die Gangmitglieder dabei zu gehen bereit sind, zeigt eine Tat, die sich im vergangenen Juni in der schwäbischen 6000-Seelen-Gemeinde Altbach ereignete.
Der junge Iraner Shariar K. sprang aus einem Taxi und warf eine Handgranate in eine Trauergemeinde. Der Tötungsradius der Handgranate M7 jugoslawischer Bauart beträgt zwölf Meter. Auf dem Friedhof hatten sich Nachbarn, Bekannte, Verwandte und Bandenmitglieder versammelt, um von einem 21-jährigen Mann Abschied zu nehmen. Er war bei einem Unfall ums Leben gekommen. Die Staatsanwaltschaft ordnet den Toten einer der verfeindeten Banden zu.
Auf die Mitglieder der Bande hatte es Shariar K. wohl abgesehen. Als er die Handgranate wirft, streift sie wie durch ein Wunder einen Baum und verfehlt so ihr Ziel. Die Granate explodiert auf freier Fläche. Dennoch verletzt die Explosion 15 Menschen zum Teil schwer. Nach Angaben der Polizei hätte es Dutzende Tote geben können.
Die ZDF-Dokumentation zeigt auch Bilder aus dem Oberlandesgericht Stuttgart von Anfang Dezember 2023, wo die Polizei mit einem Großaufgebot angerückt ist. Hier muss sich K. für seine Tat verantworten. Doch der junge Iraner, der 2016 mit seiner Familie nach Deutschland geflohen ist, schweigt. Den Handgranatenwurf gibt er zwar zu, aber die Umstände bleiben im Dunkeln.