ÖVP-Chef Christian Stocker: Plötzlich Kanzler
Wenig Glanz, viel Ruhe. Österreichs neuer Bundeskanzler soll dem Land endlich zu politischer Stabilität verhelfen. Hat er das Amt im Kreuz?
An jenem Tag Anfang Januar trug Christian Stocker (64) Jeans und Rollkragenpulli und man weiß bis heute nicht, ob das ein Arbeits- oder Abschiedsoutfit sein sollte. Die Koalitionsgespräche mit SPÖ und Neos waren gescheitert, Kanzler Nehammer hatte hingeworfen und die ÖVP rief zur Krisensitzung nach Wien. Stocker, damals Generalsekretär, rechnete mit einem harten Tag, kalkulierte einen Rücktritt ein. Stunden später verließ er das Treffen stattdessen als Parteichef. Im Anzug übrigens, sein Fahrer hatte ihn besorgt.
Österreichs Kanzler Stocker regierte zuletzt Kleinstadt außerhalb von Wien
Stocker hat die kleine Episode seither immer mal wieder erzählt. Sie sagt ja auch viel über den irrwitzigen Aufstieg dieses Mannes, den bis vor einigen Jahren noch niemand auf der Rechnung hatte. Jahrzehntelang war er Lokalpolitiker, erst 2019, mit fast 60, wurde er in den Nationalrat gewählt. Seit Montag ist Stocker, dessen höchstes Regierungsamt bisher das des Vize-Bürgermeisters seiner Heimat Wiener Neustadt war, Österreichs neuer Bundeskanzler.
Das Magazin „Profil“ nannte den Niederösterreicher deshalb jüngst den „unwahrscheinlichsten“ Kanzler der Zweiten Republik. Er selbst befand kurz nach seiner Kür zum ÖVP-Chef, das sei „nicht einmal eine irreale Option“ in seiner Zukunftsplanung gewesen. Die zweite Reihe taugt ihm eigentlich besser als die erste. Und vielleicht ist Stocker gerade deshalb die richtige Therapie für ein Land, das lange an seinen Alpha-Politikern litt: Kurz, Strache – und Herbert Kickl.
Regierungsbildung in Österreich: Im zweiten Anlauf fanden ÖVP, SPÖ und Neos zueinander
Der FPÖ-Chef hatte sich selbst höchste Chancen aufs Kanzleramt ausgerechnet und Stocker schien ihm den Weg zu ebnen. Obwohl er als ÖVP-Generalsekretär hoch und heilig schwor, niemals mit Kickl zusammenzuarbeiten, legte er als Parteichef eine 180-Grad-Wende hin. Das Land brauche eine „stabile Regierung“, argumentierte er und trat in Gespräche mit den Rechtspopulisten ein. Doch auch die scheiterten, Kickl gab den Auftrag zur Regierungsbildung zurück. Im zweiten Anlauf klappte es dann mit SPÖ und Neos.
Das Manöver hin zur FPÖ habe ihn Reputation gekostet, gestand Stocker selbst ein. Am Ende wurde es eine doppelte Kehrtwende und es scheint, als habe sie sich für ihn ausgezahlt. In den Gesprächen mit Kickl zeigte sich Stocker prinzipienfest, gab konservative Grundpositionen, vor allem die EU-Freundlichkeit, nicht preis und ließ sich auch das Innenministerium nicht abquengeln, das Kickl unbedingt wollte. In der neuen Koalition setzte er derweil einen harten Migrations-Kurs durch. Den Familiennachzug setzten die Partner mit sofortiger Wirkung aus. „Wir müssen uns auch einmal zu Maßnahmen durchringen, auch wenn die nicht unumstritten sind“, sagte Stocker.
Österreichs neuer Kanzler ein „Handwerker der Macht“
Man weiß nun: Stocker hat eine gewisse Wendigkeit, wenn es sein muss, aber sie ist nicht endlos. Er sei ein „Handwerker der Macht“, schrieb die „NZZ“ über ihn. „Die Strahlkraft eines Sebastian Kurz geht ihm völlig ab. Aber er ist im Gegensatz zu diesem auch kein Blender.“ Der Politikexperte Peter Hajek meint, der Kanzler gewinne „langsam an Glaubwürdigkeit und schärft sein politisches Profil“. Das Intermezzo mit der FPÖ würden ihm die Wähler schnell verzeihen.
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Man darf annehmen, dass es ohnehin sehr bald von Wichtigerem überlagert wird. Die wirtschaftliche Lage ist auch in Österreich schwierig, das neue Dreierbündnis muss sparen. International brechen alle Gewissheiten der letzten Jahrzehnte zusammen. Bundespräsident Alexander van der Bellen sagte den Koalitionären am Montag: „Wir müssen den Frieden in Österreich und in Europa strategisch absichern.“ Stocker, Ex-Vizebürgermeister einer 50 000-Einwohner-Stadt, muss jetzt Weltpolitik können.
Ihn selbst scheint das am allerwenigsten zu bekümmern. Der studierte Rechtsanwalt, Vater zweier Kinder, Freizeit-Fliegenfischer gilt in seiner Partei als uneitel und gewissenhaft. Er müsse nichts mehr werden und niemandem gefallen, sagte er kürzlich in einem Interview. Solche Töne hat man in Wien lange nicht gehört.