Wirtschaftsweise Grimm im Interview - „Gut, dass keine Notlage ausgerufen wird“ – und was die Politik jetzt tun muss

Warum schneiden wir im EU-Vergleich schwächer ab?

Aktuell liegt das an den Auswirkungen der Krisen. Volkswirtschaften, in denen das verarbeitende Gewerbe eine große Bedeutung hat, erholen sich langsamer. Außerdem hat uns der Wegfall russischen Gases besonders getroffen und die energieintensive Industrie steht vor großen Herausforderungen. Hinzu kommt auch die regulatorische Unsicherheit, die in der Haushaltskrise ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. Die Regierung muss nun für verlässliche Rahmenbedingungen sorgen.

Ist die bescheidene wirtschaftliche Lage für die Bundesrepublik schon historisch schlecht?

Ja. Das liegt aber weniger an der Konjunktur als vielmehr an strukturellen Herausforderungen. Deutschland ist zunehmend in einer strukturellen Wachstumsschwäche. Der bevorstehende Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge, der sogenannten Babyboomer, führt zu einem deutlich sinkenden Arbeitsangebot. Das schwächt das Wachstumspotenzial. Wenn sich an der aktuellen Dynamik bei den Investitionen nichts ändert, so wachsen wir in den Jahren bis 2028 im Schnitt nur mit einer Rate von 0,4 Prozent. Das ist ein Drittel des Niveaus in den 2010er-Jahren. 

Welche absehbaren positiven Entwicklungen könnten einen Aufschwung tragen? Und was kann die Politik tun?

Wo dies möglich ist, werden wir zunehmend eine Substitution von knappen Arbeitskräften durch Investitionen in Automatisierung oder zum Beispiel künstliche Intelligenz sehen. Das führt nicht zu mehr Arbeitslosigkeit, sondern zu einer besseren Verfügbarkeit von Arbeitskräften in Sektoren, wo sie dringend benötigt werden. Denn die Möglichkeiten, Arbeitskräfte durch eine höhere Kapitalintensität der Produktion einzusparen, sind je nach Wirtschaftsbereich sehr unterschiedlich. Diese Entwicklungen muss die Politik begleiten, damit niemand hinten runterfällt. Darüber hinaus werden wir den Strukturwandel unserer Industrie zulassen müssen. Unternehmen werden energieintensive Teile von Wertschöpfungsketten an Standorte verlagern, an denen die Kosten erneuerbarer Energien niedriger sind. Zugleich werden wir Investitionen in Forschung, Entwicklung und in neue Technologien brauchen, die die Produktivität steigern.

Die Energiewende sollte das Wachstum zumindest nicht schmälern. Ist dieses Regierungsversprechen gebrochen?

Es ist einfach, Versprechen abzugeben, bei denen später niemand überprüfen kann, ob man sie eingelöst hat. Die Bundesregierung sollte in der Tat versuchen, wachstumsfördernde Investitionen zu mobilisieren. So lassen sich die sehr ungünstigen Aussichten für das Potenzialwachstum verbessern. Das erfordert politisch aber viel Mut und eine gute Kommunikation, denn man muss einen tiefgreifenden Strukturwandel hin zu besonders produktiven Wirtschaftsbereichen zulassen und begleiten. 

Wo sehen Sie die größten Risiken für das Wachstum?

Wenn die Politik, etwa durch Subventionen der energieintensiven Industrie, zu sehr auf Bestandswahrung setzt, dann werden wir Probleme bekommen. Denn man wird die Unternehmen auch mit Subventionen zu großen Teilen nicht halten können. Sie werden antizipieren, dass sich die nötigen Wirtschaftshilfen nicht auf Dauer durchhalten lassen, und daher beginnen, neue Standorte im Ausland aufzubauen. Das Geld würde verpuffen. Wir müssen vielmehr den Import von großen Mengen klimafreundlicher energieintensiver Vorprodukte – also grünen Wasserstoff und darauf basierendes Ammoniak oder Methanol – vorbereiten, damit die Unternehmen ihre darauf aufbauenden komplexen Wertschöpfungsketten im Land halten können. Dort, wo der Wandel nicht aufhaltbar ist, sollten wir daher bei den Verlagerungen mitgestalten, denn sonst sind schlimmstenfalls die neuen Standorte vermehrt in Staaten, die heute als „unfreundlich“ eingeschätzt werden. Oder es verlagern sich unnötig große Teile der Wertschöpfungsketten. Daraus könnten sich dann neue Abhängigkeiten ergeben – die wir ja eigentlich reduzieren wollen. Man muss also sehr hart mit sich ins Gericht gehen. Klientelpolitik kann einen hohen Preis für das Land haben.

Wie ist Ihre Prognose für die Weltwirtschaft?

Die weltpolitische Lage ist fragil. Die Wahrscheinlichkeit, dass im Windschatten aktueller Konflikte weitere ausbrechen, ist hoch. China entwickelt sich schlechter, als es erwartet worden war. Die exportgetriebene deutsche Wirtschaft belastet ein schlechtes außenwirtschaftliches Umfeld besonders. 

Wieso kommen die USA trotz massiv steigender Zinsen so gut voran?

Die US-Regierung versucht alles, um die Wirtschaft in Gang zu bekommen, und das gelingt ihr nicht schlecht. Der Inflation Reduction Act befördert Investitionen in den Klimaschutz und kurbelt die Wirtschaft an. Joe Biden agiert aber auch aus der Not heraus: Die Demokraten werden im Wahlkampf massiv unter Druck geraten, wenn die Erholung nicht voranschreitet. Der Nahostkonflikt hilft dabei nicht, er erhöht den Druck auf den Präsidenten. Wir können froh sein, dass Biden mit ruhiger, aber entschlossener Hand agiert. Die bevorstehenden Wahlen in den USA sind aber ein großes Risiko. 

Welche Zinsentwicklung sehen Sie in der EU?

Die Inflation sinkt, das ist gut. Aber die Kerninflation, die den allgemeinen Preistrend beschreibt, ist anhaltend hoch. Im kommenden Jahr 2024 dürfte sie mit 3,2 Prozent sogar über der Inflationsrate liegen, die der Sachverständigenrat bei 2,6 Prozent erwartet. Die wieder steigenden Reallöhne dürften die Preise bei Dienstleistungen weiter erhöhen. Das führt noch zu anhaltendem Preisdruck. Es ist daher wichtig, dass die EZB die Zinsen nicht zu früh wieder senkt, denn das könnte die Inflation zurückbringen. Und ein dadurch geringeres Vertrauen in die Geldpolitik würde es umso schwerer machen, die Inflation wieder zurück auf 2 Prozent zu bringen.

Autor: Peter Löwen

Dieser Beitrag erschien zuerst auf fondsmagazin.de