Öffnen statt abschotten - Spanien macht beim Thema Migration alles anders - und wird jetzt dafür belohnt

Wenn Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez am Rednerpult steht, geht es in letzter Zeit häufig um Migration. Das allein scheint erst mal nicht ungewöhnlich, ist es doch in der gesamten Europäischen Union aktuell das prägende Thema.

Italien baut Flüchtlingslager in Albanien, damit Menschen erst gar nicht mehr nach Italien einreisen. Polen kündigt an, das Asylrecht zeitweise aussetzen zu wollen. Deutschland verstärkt seine Grenzkontrollen. Ungewöhnlich sind da die Töne, die Sánchez anschlägt.

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Einige europäische Regierungen lägen in ihrem Diskurs falsch, sagte er etwa bei der Pressekonferenz eines Gipfeltreffens mit Portugal am Mittwoch. „Ihre Debatte ist negativ, sie stigmatisiert Migranten, bringt sie mit Unsicherheit in Verbindung.“ Dabei sei Europa auf Migration angewiesen und müsse eine positive Erzählung finden.

In einer Rede Anfang Oktober sagte er vor dem Parlament: „Wir Spanier sind Kinder der Migration. Lassen Sie uns nicht die Eltern der Ausländerfeindlichkeit werden. Lassen Sie uns eine Migrationspolitik machen, auf die Senioren in unserem Land stolz sein können. Und eine Migrationspolitik, die ihren Enkeln eine Zukunft bietet.“

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Sánchez wollte mit dieser Rede für Gesetzesreformen seiner Regierung werben, um Hürden für Einwanderer weiter abzubauen. Er steht damit im Widerspruch zu der europäischen Debatte – während andere sich abschotten, öffnet Spanien sich.

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Spanien möchte Einwanderung erleichtern

Die Reform sieht vor, Fristen für den Zugang zu Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen zu verkürzen und zu erleichtern, bestehende Aufenthaltsgenehmigungen können auf größere Zeiträume verlängert werden, akademische Qualifikationen leichter anerkannt werden.

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Zehntausende Menschen könnten dadurch gültige Papiere bekommen: Studierende, Arbeitssuchende, Familien und Asylbewerber, deren Anträge in den vergangenen Jahren abgelehnt wurden.

Darüber hinaus möchte die spanische Regierung Pläne entwickeln, die die Integration der Eingewanderten und das gesellschaftliche Zusammenleben verbessern.

„Die spanische Regierung will sich absetzen – in Europa, aber vor allem von der Opposition im eigenen Land“, sagt María Belén Blázquez Vilaplana, Politikwissenschaftlerin an der Universidad de Jaén. „Ihre Politik soll die Werte des Teils der spanischen Bevölkerung widerspiegeln, der sich mit Solidarität und Integration identifiziert.“

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Für die Expertin liegt der große Unterschied zum Rest Europas vor allem genau darin, Migration nicht als Problem zu betrachten. „Wir denken nicht an staatliche Maßnahmen zur Eindämmung oder Kontrolle, sondern an die Integration als Chance.“

Dass der spanische Blick auf Migration ein anderer ist, hat mehrere Gründe.

Weniger politischer Druck von Rechtsaußen

Sánchez’ linke Regierungskoalition aus seiner sozialdemokratischen Partei PSOE und dem linken Bündnis Sumar ist weniger Druck von rechts ausgesetzt, als das zum Beispiel in Deutschland der Fall ist.

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Die konservative PP scheint weniger nach rechts zu rücken als vergleichbare Parteien in Deutschland, sagt Luise Rürup, Leiterin des Madrid-Büros der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung.

Auch Ruth Ferrero-Turrión, Professorin für Politik und Europastudien an der Universidad Complutense, sagt: „Grundsätzlich sind die Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien in Spanien mit der derzeitigen Ausgestaltung des Ausländerrechts einverstanden. Das erschwert es der radikalrechten Partei Vox, das Thema zu instrumentalisieren.“

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Nichtsdestotrotz ist Vox seit seiner Gründung vor elf Jahren zu einer festen Größe in der spanischen Politik geworden und setzt unter anderem auf einen xenophoben, rassistischen Kurs. „Das verfängt durchaus in der spanischen Bevölkerung“, sagt Rürup. Bei der Parlamentswahl im vergangenen Jahr bekam die Partei 12,4 Prozent der Stimmen.

In einer kürzlich von der spanischen Zeitung „El País“ veröffentlichten Umfrage sagten 57 Prozent der Befragten, es gäbe zu viele Einwanderer im Land. „Aber die Partei erlebt nicht das gleiche exponentielle Wachstum, das wir in anderen Ländern Europas sehen.“

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Spanien als Auswanderungsland

Das liege auch an Spaniens historisch besonderer Beziehung zur Migration. „Bis in die Neunzigerjahre war Spanien kein Land, in das Menschen einwanderten, sondern aus dem Menschen auswanderten“, sagt Rürup.

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Diese Geschichte meint auch Premier Sánchez, wenn er von den Spanier:innen als „Kinder der Migration“ spricht und darauf verweist, dass zwei Millionen Menschen zwischen 1949 und 1978 vor der Diktatur Francisco Francos flohen. „Die Hälfte von ihnen irregulär“, sagte er in seiner Rede vor dem Parlament.

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„Viele Spanier haben dadurch lange im Ausland gelebt oder bis heute Verwandte in anderen Ländern“, bestätigt Rürup. „Es herrscht deshalb viel Empathie für die, die heute ins Land kommen.“

Ein Großteil der Migrant:innen kommen zudem aus Lateinamerika – zwischen 2017 und 2019 waren es laut Eurostat etwa 50 Prozent. Sie sprechen dieselbe Sprache und haben mehr Bezugspunkte zur spanischen Kultur. Aber auch aus afrikanischen Staaten kommen in den vergangenen Jahren immer mehr Menschen in Spanien an. Zwischen Anfang Januar und Mitte August dieses Jahres waren es laut Innenministerium mehr als 22.300.

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„Mit Maßnahmen zur Förderung des sozialen Zusammenhalts hat Spanien eine sogenannte Ghetto-Bildung bislang vermeiden können“, sagt Politikwissenschaftlerin Ferrero-Turrión. Die Erfahrung mit Migration ist bislang eine von Interkulturalität.

Eine alternde Bevölkerung

Die anscheinend größere Toleranz hat auch demografische und wirtschaftliche Gründe. „Spanien braucht die Einwanderer als Arbeitskräfte, um seine Wirtschaft wieder anzukurbeln und die Überalterung der Bevölkerung zu stoppen“, sagt Expertin Blázquez Vilaplana.

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„Das ist die spanische Erfahrung mit Migration“, sagt Luise Rürup. „Im Restaurant und in der Bar werden sie von ausländischen Arbeitskräften bedient, ihre Großeltern werden von Latinos gepflegt.“

Gerade ohne gering qualifizierte Migrant:innen, sagt Sánchez, würden Sektoren wie das Baugewerbe, die Landwirtschaft und das Gastgewerbe zusammenbrechen. Denn wie in vielen Länder Europas wird auch die Bevölkerung in Spanien immer älter.

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Außerdem gibt es seit Franco in vielen ländlichen Teilen ein Problem mit Entvölkerung. Der Journalist Sergio del Molino gab diesem Phänomen 2016 den Titel „España vacía“, das leere Spanien.

Migranten kurbeln die Wirtschaft an

Diese Strategie verzeichnet wirtschaftlich Erfolge. Spanien gehörte zuletzt zu den Ländern in der EU mit dem höchsten Wirtschaftswachstum. Während Deutschlands Wirtschaft 2023 nur um 0,1 Prozent wuchs, waren es in Spanien 2,5 Prozent. Auch die Inflation sank zuletzt merklich.

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Ob Migration die Ursache dafür ist, lässt sich bisher nicht sagen. Aber beide Entwicklungen überschneiden sich.

„In dem Maße, in dem sich die spanische Wirtschaft verbessert, kommen Einwanderer. Und in dem Maße, in dem sie kommen, verbessert sich die Wirtschaft“, sagte etwa Jesús Fernández-Huertas, Professor für Einwanderungsökonomie an der Universität Carlos III in Madrid, der argentinischen Zeitung „La Nación“.

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Es gibt Zahlen, die dafür sprechen. Laut einer Analyse der spanischen Banco de España lag die Erwerbsquote der Einwanderer in Spanien bei 78 Prozent – eine der höchsten in der EU. Zum Vergleich: In Deutschland waren es 73 Prozent. Die Autor:innen der Analyse nennen die Einwanderung deshalb einen „Schub für die Arbeitskraft der Empfängerländer.“

Auch Luise Rürup von der Friedrich-Ebert-Stiftung bestätigt: „Die Leitfrage der spanischen Migrationspolitik ist: Wie machen wir die Einwanderer schnell zu Steuerzahlern?“ Ein Ansatz, der sich vielleicht auch im Rest Europas lohnen würde.

Von Laura Dahmer

Das Original zu diesem Beitrag "Spanien macht es anders: Mit neuer Migrationspolitik soll die Wirtschaft gerettet werden" stammt von Tagesspiegel.