Neurowissenschaftler verrät drei Schlüssel für kreatives Denken im Studium

Entdeckungsmodus oder Verteidigungsmodus?Wer im Verteidigungsmodus studiert, verpasst das Wesentliche: Mut zu Irrtum, Neugier und Meinungswechsel.

Was bringt ein Studium, wenn man sich nie traut, falsch zu liegen? Genau daran entscheidet sich, ob es zur Entdeckungsreise wird – oder zur Pflichtübung. Studieren heißt nicht, immer Recht zu haben – sondern den Mut zu haben, auch mal falsch zu liegen. In diesen Tagen kehren zum Wintersemester wieder Hunderttausende Studenten in die Hörsäle zurück. 

Jetzt entscheidet sich, ob sich Studenten durch das Studium weiterentwickeln oder ob die Beschäftigung mit akademischen Inhalten zur lästigen Pflicht verkommt. Viele von ihnen starten voller Erwartungen – und stehen doch vor der Frage: Wollen sie ihr Studium als Entdeckungsreise begreifen oder als Verteidigungskampf gegen Fehler und Kritik?

Kai-Markus Müller, Professor für Konsumentenverhalten an der HFU Business School, Campus Schwenningen, ist bekannt für Pionierarbeit in der Entwicklung von NeuroPricing™. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.

Zwei Modi, die unser Denken bestimmen

Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt beschreibt zwei Zustände, die unser Denken und Handeln prägen: den Verteidigungsmodus und den Entdeckungsmodus.

  1. Im Verteidigungsmodus reagieren wir primär auf Risiken und Bedrohungen. Wir wollen Fehler vermeiden, wirken vorsichtig und ziehen uns zurück. Smartphones und soziale Medien verstärken diesen Zustand, weil sie permanent Vergleichsdruck, Ablenkung und unterschwellige Ängste erzeugen.
  2. Im Entdeckungsmodus stehen Neugier, Offenheit und das Ausprobieren im Vordergrund. Wir wagen Neues, knüpfen Kontakte, akzeptieren Fehler – und lernen gerade dadurch.

Warum das Studium Entdeckungsraum sein muss

Die Entwicklungspsychologie verdeutlicht, dass - im Laufe des Lebens - „die Gene ihre Umwelt suchen“. Menschen sind anfangs noch stark von der Umgebung geprägt. Ein junger Mensch beispielsweise mit naturwissenschaftlichen Fähigkeiten, der in einem geisteswissenschaftlich geprägten Elternhaus aufwächst, wird sich möglicherweise erst im Laufe seines Studiums in Richtung seiner genetischen Neigungen entwickeln. Sich auf den Entdeckungsmodus einzulassen, hilft dabei immens. Entdeckungsmodus bedeutet, intellektuelle Experimente zu wagen, Diskussionen auszuhalten und auch die eigene Meinung zu hinterfragen. Die Hochschule ist kein Ort für Denkverbote, sondern ein Raum, in dem es erlaubt ist, Positionen zu vertreten, sie zu verteidigen – und sie auch wieder zu ändern. Genau darin liegt der Wert akademischer Bildung: nicht im bloßen Wiederholen, sondern im selbstständigen Denken.

Drei Bedingungen für den Entdeckungsmodus

Damit dieser Entdeckungsmodus gelingt, braucht es drei Dinge:

  1. Freiheit: Räume, in denen man auch kontroverse oder politisch unkorrekte Thesen ohne Angst vor Sanktion diskutieren kann. Die größte Gefahr der intellektuellen Freiheit sind Call-out-Culture und Cancel Culture - also das öffentliche Anprangern oder Ausgrenzen von Personen, die unbequeme Meinungen äußern. Auch die Hochschullandschaft steht hier in der Verantwortung
  2. Vertrauen: Eltern und Gesellschaft sollten Orientierung geben, ohne Studenten permanent vor Risiken zu warnen
  3. Fehlerfreundlichkeit: Das bedeutet nicht Beliebigkeit. Studenten sollen sich darauf einlassen, dass es objektiv richtige und falsche Antworten gibt – und dass Korrekturen Teil des Lernprozesses sind. Fehler dürfen nicht beschämen, sondern müssen motivieren, den nächsten Schritt zu gehen

Worauf es jetzt ankommt

Der Übergang vom Verteidigungsmodus in den Entdeckungsmodus entscheidet nicht nur darüber, ob das Studium als Chance genutzt wird oder ob es zu einer Abfolge vorsichtiger Pflichtübungen verkommt. Er entscheidet auch darüber, ob junge Menschen später bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, Neues zu gestalten und gesellschaftliche Debatten konstruktiv zu führen. Wer im Studium lernt, Unsicherheit auszuhalten, Kritik zu akzeptieren und neugierig zu bleiben, entwickelt genau die Fähigkeiten, die wir als Gesellschaft dringend brauchen: Offenheit, Urteilsvermögen und Mut. Ein Studium, das Entdeckungsgeist zulässt, ist damit nicht nur eine individuelle Bildungsreise – es ist auch ein Beitrag zu einer lebendigen, widerstandsfähigen Gesellschaft.

Am Ende geht es um drei Dinge: Neugier zulassen, Denkverbote vermeiden und den Mut zum Meinungswechsel haben. Wer das für sich verinnerlicht, nutzt das Studium nicht nur zum Lernen, sondern lässt sich wirklich darauf ein und wächst daran.