FOCUS-Interview mit Oleksii Makeiev - „Das ist nicht ehrlich“: Ukraine-Botschafter rügt deutsche Friedensdebatte

Zu Friedensdebatte in Deutschland: „Das ist nicht ehrlich“

Wie nehmen Sie die deutsche Debatte um eine Waffenruhe oder ein „Einfrieren“ des Krieges wahr? 

Ich würde mir da ein ehrlicheres Gespräch mit den Menschen wünschen. Viele Deutsche wünschen sich Frieden, also sagt man als Politiker: Ich bin für Frieden. Und dann wählen einen die Leute. Aber das ist nicht ehrlich. 

Warum? 

Weil sehr viele, die jetzt Friedensdemos organisieren oder von einem raschen Frieden sprechen, überhaupt keine Vorstellung davon haben, wie man diesen Frieden erreicht. Und wenn sie doch Pläne haben, wirkt es auf uns Ukrainer so, als ob diese Pläne auf unsere Kosten verwirklicht werden sollten. 

Was genau meinen Sie? 

Ich spreche von den Menschen in den besetzten Gebieten. Was würde mit ihnen geschehen? Russland vernichtet das ukrainische Leben, es verschleppt die Kinder, und wir können nur ahnen, welche Kriegsverbrechen dort begangen werden. Sollen wir Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer einfach ihrem Schicksal überlassen? Das ist ein Riesenproblem für unser ganzes Volk. Ich höre immer nur Forderungen an die Ukraine, auf welche Gebiete wir verzichten sollten, wie unser künftiger Status aussehen sollte – aber ich höre keine Forderungen an den Aggressor. Und das verwundert mich sehr. Das sogenannte „Einfrieren“ des Krieges gehört zu meinen persönlichen Unworten des Jahres.

Scholz und sein Telefonat mit Putin

Aber noch mal: Vor jedem Frieden gibt es eine Waffenruhe. Wieso sollte das kein legitimer Wunsch sein? 

Weil Russland keine Ruhe gibt. Wir hatten das alles doch schon mal, nach den Verhandlungen von Minsk. Da gab es 40 oder 50 Feuerpausen, die Russland alle gebrochen hat. Die Hoffnung auf eine Waffenruhe ist eine Scheinhoffnung. 

Der Bundeskanzler hat vergangene Woche erstmals nach mehr als zwei Jahren mit dem russischen Präsidenten telefoniert – aber der Zeitpunkt dieses Telefonats war mit niemandem abgestimmt, weder mit den westlichen Verbündeten noch mit der Ukraine. Und gebracht hat das Gespräch offensichtlich nichts, denn schon am Tag danach hat Russland wieder massiv zivile Ziele in der Ukraine bombardiert.

War dieses Telefonat von Olaf Scholz noch Diplomatie oder schon Wahlkampf? 

Für mich ist wichtig, dass die militärische und diplomatische Unterstützung der Ukraine zu einem parteiübergreifenden Thema im Wahlkampf wird, aber Diplomatie kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie aus einer Position der Stärke erfolgt. Gespräche, die tief ins russische Territorium reichen, schaffen keinen Frieden und verhindern keine Eskalation. Weitreichende Waffensysteme hingegen tun genau das – sie bauen Druck auf den Aggressor auf. Der massive Angriff auf die ukrainische Energieinfrastruktur am Wochenende verdeutlicht, dass es nicht Telefonate sind, die Russland stoppen, sondern entschlossene und mutige Entscheidungen.

„Ich achte die deutsche Debattenkultur“

Welche genau? 

Eine deutliche qualitative und quantitative Erhöhung der militärischen Unterstützung. Ebenso eine Nato-Einladung – sie würde Putin zeigen, dass er geopolitisch verliert. Diese Maßnahmen und nicht Telefonate werden uns in eine Position der Stärke bringen, um Russland an den Verhandlungstisch zu zwingen. 

Mit dem Wissen von heute: Was hätte die Bundesregierung seit Februar 2022 besser machen können? 

Ich achte die deutsche Debattenkultur, und mir ist bewusst, wie wichtig es in einer Demokratie ist, die Bevölkerung von wichtigen Entscheidungen zu überzeugen. Und ganz sicher war die Lieferung von Waffen in ein Kriegsgebiet gerade für Deutschland eine sehr wichtige, eine bedeutsame Entscheidung. Und dennoch darf ich anmerken, dass man viel zu lange gebraucht hat, viel zu viel Zeit verloren hat. 

Als sie vor etwas mehr als zwei Jahren nach Deutschland kamen, sagten Sie in einem Ihrer ersten Interviews, Sie würden gern verstehen, warum die Deutschen so große Angst vor Waffenlieferungen hätten. Haben Sie’s verstanden? 

Das Wichtigste ist, dass die Deutschen inzwischen gemerkt haben dürften, dass es überhaupt keinen Grund gibt, Angst vor Russland zu haben. Diese übertriebene Furcht, man könne Russland zu sehr reizen, die gab es schon 2014. Es gab sie nach der Invasion 2022, es gab sie vor der Lieferung von Schützenpanzern, vor der Lieferung von Leopard-Panzern, und es gibt sie auch jetzt noch, bei der Debatte um die Lieferung von Taurus-Raketen. Aber bislang hat keine Waffenlieferung dazu geführt, dass dieser Krieg eskaliert wäre. 

Das Gefährliche in einem Krieg ist doch: Ob man eine rote Linie überschritten hat, merkt man erst hinterher. 

Mich verwundert diese Debatte über rote Linien. Denn ich finde, sie wird aus der falschen Perspektive geführt. Hier in Deutschland wird sehr viel darüber gesprochen, welche rote Linien es für die eigene Politik gibt. Stichwort: keine Taurus-Raketen für die Ukraine. Oder welche roten Linien es womöglich für Russland gäbe und womit man Russland zu sehr reizen könne. Man fesselt sich damit im Grunde selbst. Aber niemand sagt dem Aggressor: Pass mal auf, das hier ist unsere rote Linie, und wenn Du sie überschreitest, dann hast Du mit Konsequenzen zu rechnen.

„Einige Hunderttausend ukrainische Männer in Deutschland“

Was hätte die Ukraine seit Februar 2022 besser machen müssen? 

Gute Frage. 

Eine Antwort wäre: Man hätte sofort nach Kriegsbeginn alle Männer über 18 einberufen können und nicht überwiegend ältere Jahrgänge. Dann hätte man viel mehr Soldaten an den Waffen und die erschöpften Einheiten könnten auch mehr rotieren. 

Gerade in den ersten Tagen haben sich sehr viele Freiwillige gemeldet. In diesem Jahr haben wir das Mobilisierungsgesetz geändert, und wenn wir jetzt neue Brigaden zusammenstellen, geht das sehr schnell. Woran es mangelt, ist Material: Kampfpanzer, Schützenpanzer, solche Waffen. Wir haben Soldaten, aber wir können unsere Kampfverbände nicht schnell genug und gut genug ausstatten. 

Wie viele ukrainische wehrfähige Männer befinden sich in Deutschland? 

Das wissen wir nicht genau. Insgesamt dürften einige Hunderttausend ukrainische Männer in Deutschland sein, aber nicht alle sind wehrpflichtig. 

Verstehen sie, wenn manche Menschen hierzulande sagen: Wir sollen dabei helfen, die Ukraine zu verteidigen, aber die Ukrainer verteidigen sich ja nicht mal selbst? 

Nein. Ich kenne diese Sätze und ich halte sie für eine gefährliche Verkürzung, ja Verdrehung der Zusammenhänge. Die Ukrainer verteidigen ihr Land Tag für Tag, und sie zahlen dafür einen sehr hohen Preis. Unter den vielen Ukrainern, die in Deutschland Schutz gefunden haben, sind 200000 Kinder, dazu ihre Mütter, und viele ältere Menschen. Es gibt keinen Ukrainer, der nicht vom Krieg betroffen ist.

„Deutsche Unterstützung für die Ukraine ist gut investiertes Geld“

Der Kanzler hat gesagt, er wolle den Krieg aus dem Wahlkampf heraushalten und nicht die Ukraine-Hilfe gegen die Bürgergeldempfänger ausspielen. Aber genau damit hat er es zum Thema des Wahlkampfs gemacht. 

Sehr viel von dem, was im deutschen Staatshaushalt jetzt für die Ukraine vorgesehen ist, bleibt in Deutschland. Es sind auch deutsche Unternehmen – etwa Rüstungsfirmen oder Energiekonzerne – die an der Verteidigung und am Wiederaufbau meines Landes nun Geld verdienen und Arbeitsplätze in Deutschland schaffen. Außerdem ist die deutsche Unterstützung für die Ukraine gut investiertes Geld in die eigene Sicherheit. Denn die Ukrainer sind es, die die russischen Raketen abfangen. Und je schneller dieser Krieg beendet wird, desto weniger Menschen müssen vor den russischen Kriegsverbrechen fliehen. 

Was erhoffen Sie von der nächsten Bundesregierung? 

Wir haben vorhin über das Unwort des Jahres gesprochen. Meine Hoffnung ist, dass „Führungsstärke“ das Wort des Jahres wird. 

Welcher Kanzler wäre besser für die Ukraine? Olaf Scholz oder Friedrich Merz? 

Das entscheiden die Deutschen.