Angehörige der israelischen Geiseln in Berlin – Mutter fleht: „Helft uns, die Kinder zu retten“
40 Tage sind die Hamas-Geiseln verschwunden. Jeder Tag ist ein Albtraum und doch geben die Angehörigen der Opfer die Hoffnung nicht auf.
Berlin – Als Batsheva Yahalomi Cohen am Morgen des 7. Oktober aufwacht, weiß sie noch nicht, welcher Horror die nächsten Stunden, Tage und Wochen über sie und ihre Familie hereinbrechen wird. Um 6.30 Uhr geht der Luftalarm in Nir Oz, einer Siedlung im Süden Israels, los. Yahalomi Cohen und ihr Mann Ohad Yahalomi wissen sofort was zu tun ist – Schutz suchen. Doch der Alarm ist nicht wie sonst. Schüsse, Rauch, „Allahu-Akbar“-Rufe.

Um 10 Uhr fallen vier bewaffnete Terroristen in das Haus, in den nicht verschlossenen Schutzraum der Familie ein. Familienvater Yahalomi wird angeschossen. Geschrei, Drohungen und die Aufforderung mitzukommen. „Ich habe verstanden, dass sie uns kidnappen wollen“, sagt Yahalomi Cohen. Ihre Stimme stockt, ihre Hände zittern, wenn sie über diesen Morgen spricht.
Yahalomi Cohen, ihre zwei Töchter (10 und 1,5 Jahre) und ihr Sohn Eitan (12) werden in ihren Schlafanzügen ohne Schuhe verschleppt – auf Motorrädern Richtung Gaza-Streifen. „Was ich gesehen habe, war Horror“, sagt sie. „Der ganze Kibbuz brannte und so viele Terroristen waren dort.“ Kurz vor der Grenze gerät das Motorrad, auf dem Yahalomi Cohen mit ihren Töchtern sitzt, ins Stocken. Chaos. Sie nutzt die Gelegenheit und flieht – aber nur mit zwei ihrer drei Kinder. Sohn Eitan wird auf einem anderen Motorrad verschleppt. Der Moment, als Eitan von Terroristen Richtung Grenze gebracht wird, ist das letzte Mal, dass seine Mutter ihn lebend sieht. „Helft uns, die Kinder zu retten“, fleht Yahalomi Cohen. „Sie sind nicht Teil des Krieges.“ Auch Ohad Yahalomi wird nicht mehr im Haus aufgefunden. Auch er wird unter den insgesamt 239 Geiseln der Terrororganisation Hamas vermutet.
Rund 30 Kinder sind unter den 239 Geiseln – „Heute müssen die Kinder freigelassen werden“
Von knapp 30 Kindern in der Gewalt der Hamas geht das israelische Militär aus. Auf einem Flugblatt, das drei Angehörige der Geiseln zu einem Treffen in Berlin mitbringen, sind Fotos von den Kindern zu sehen. Kfir Bibas (11 Monate), Yuly Konio (3 Jahre), Yuval Brodutch (8 Jahre), Agam Goldstein-Almog (17). Die Liste ist lang und unerträglich. „Lasst die Kinder frei. JETZT!“, steht darüber.

„Heute müssen die Kinder freigelassen werden. Heute, nicht morgen“, sagt Gilad Korngold, „Morgen könnte es zu spät sein.“ Korngold vermisst sieben Familienmitglieder, darunter seinen Sohn Tal, dessen Frau Adi und ihre beiden Kinder Neve (3) und Yahel (8). Die Kinder sind deutsch-israelische Staatsbürger. Ihr Haus wurde komplett niedergebrannt. „Sie gingen von Haus zu Haus und haben die Menschen getötet“, sagt Korngold. Doch Leichen von seiner Familie wurden nicht gefunden. Deswegen werden sie alle unter den Geiseln vermutet. Korngold kämpft mit den Tränen.
Seit 40 Tagen gibt es kein Lebenszeichen der Geiseln
Es ist die Hoffnung, die die Angehörigen antreibt, weiterzumachen. Ihre Geschichten zu erzählen. Um Hilfe zu bitten. Damit die Geiseln, die irgendwo im Untergrund vermutet werden, nicht in Vergessenheit geraten. Avihai Brodutch hatte am 7. Oktober eigentlich schon mit dem Schlimmsten gerechnet. Die letzte Nachricht, die er von seiner Frau Hagar bekam, war, dass jemand im Haus ist. „Ich war mir sicher, dass meine Familie totgeschossen wurde“, sagt Brodutch. Doch Hagar und die drei Kinder Oriya (4), Yuval (8) und Ofri (10) wurden lebend gesehen, als sie nach Gaza verschleppt worden sind. Ein Hoffnungsschimmer für den Familienvater. Doch seit 40 Tagen gibt es kein Lebenszeichen.
Wo die Geiseln festgehalten werden, ist unklar. Erst wurden sie unter dem Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt vermutet, doch bislang gibt es keine Spur. Die Verhandlungen laufen auf Hochtouren. Weitere Details gibt es aber nicht. Bei ihrem Besuch in Berlin haben die drei Angehörigen der Verschleppten auch den katarischen Botschafter getroffen. Am Donnerstag dann ein Treffen mit Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD).
Angehöriger hofft auf das Überleben seiner Familie und Frieden in der Region
Immer und immer wieder erzählen die Angehörigen ihre Geschichte. Der Schock sitzt tief. Ein Verbrechen gegen Juden, das ihn an den Holocaust erinnere, sagt Brodutch. Nur diesmal ist es „auf israelischem Boden, auf jüdischem Boden passiert“. Vergessen werde das niemals. Und trotzdem hat er Hoffnung. Sein größter Wunsch sei es, seine Familie zurückzubekommen und sein zweitgrößter sei Frieden.
Brodutch lebt in Kfar Aza, einem Kibbuz nur gut vier Kilometer vom Gaza-Streifen entfernt. Wenn er sein Schlafzimmerfenster öffnet, sieht er Gaza. Ein Leben dort, so direkt an der Grenze sei „nicht aus Kriegs-, sondern Friedensgründen“. Einmal die Woche habe sein Schwiegervater Palästinenser von der Grenze in israelische Krankenhäuser gebracht. Auch Korngold erzählt, dass er damals nach Gaza gefahren ist, Fisch am Strand gegessen hat und seine palästinensischen Freunde ihn samstags besuchen kamen. „Dieser Konflikt wird niemals enden, wenn wir uns weiter attackieren“, sagt Brodutch.
Ein Leben zurück im normalen Alltag ist nicht möglich. „Wir sind in einem Albtraum, jeden Tag, jeden Moment“, sagt Yahalomi Cohen. Sie dachte, dass die Menschen wenige Tage später wieder freikommen würden, „aber 40 Tage später, sehe ich kein Ende“. Solange wird sie zusammen mit all den Angehörigen weiter ihre Geschichte erzählen. Es kostet Kraft. Aber sie tun alles, um ihre Familien wieder zurückzubekommen.