Jetzt wird es gefährlich
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
manchmal kann man das Wochenende kaum erwarten. Zum Glück ist schon Freitag und wir dürfen uns auf das Entspannungsprogramm freuen. Einfach mal vor der Glotze relaxen, mit einer Serie vielleicht. Irgendwas Unterhaltsames über machtgierige Typen, die auf der Chefetage wilde Intrigen spinnen – das wäre doch super. Winkelzüge, Milliardenpoker, dramatische Wendungen, so was. Am besten gewürzt mit einer geheimnisvollen Hochtechnologie, die über das Schicksal der Menschheit entscheidet oder sie in den Untergang führen kann. Spannung! Drama! Wie bitte, Sie finden das zu dick aufgetragen? Mag sein, muss aber alles mit rein. Andernfalls wäre die Story zu blass im Vergleich zur Realität.
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Die ist nämlich noch dramatischer, wie wir seit dieser Woche wissen. Im realen Thriller sind die Hauptrollen hochkarätig besetzt: mit Managern eines Unternehmens, das so rasend den Markt erobert hat wie keines zuvor in der Geschichte der Menschheit. Als exklusiven Gaststar begrüßen wir den Chef von Microsoft, der zweitwertvollsten Firma der Welt. Es wird gezockt, dass es kracht. Es geht um Summen, bei denen selbst Hunderte Millionen Euro ins Kleingeldfach des Portemonnaies gehören. Es wird taktiert, gelauert, im richtigen Moment erbarmungslos zugeschlagen. All das, um die Kontrolle über eine Technologie zu erlangen, die als nächster Quantensprung der Menschheit gilt und uns zugleich existenziell bedrohen kann: künstliche Intelligenz.
Quantensprung? Existenzielle Bedrohung? Nun mal langsam, denken Sie jetzt vielleicht. Ein Riesengeschäft, mag sein, aber den Weltuntergang wollen wir jetzt nicht gleich herbeireden, der Harms immer mit seinen Übertreibungen! Ist doch wieder nur so ein Hype, dieses ganze Ding mit der KI. Also schön cool bleiben.
Falls Sie das denken, verstehe ich Ihre Skepsis. Sobald jemand behauptet, künstliche Intelligenz bedrohe den Fortbestand der Menschheit, denkt man unwillkürlich an Killerroboter, die unsere Spezies jagen und versklaven. Solche Hollywood-Fantasien sind Quatsch. Die echte Gefahr ist unscheinbarer: dass wir nämlich von der KI abhängig werden wie Junkies von der Nadel.
Stellen Sie sich vor, Sie drücken gelangweilt die Schulbank oder sitzen im Hörsaal. Dann werden Aufgaben verteilt: mal ein Aufsatz, mal ein Referat, irgendwann steht die Abschlussarbeit an. Sie könnten sich die Inhalte fleißig erarbeiten, aber inzwischen geht es auch anders: Fragen Sie einfach eine KI-Software wie ChatGPT. Die legt los und spuckt ruckzuck den passenden Text aus. So kann man sich durch Schule und Studium hangeln, wenn man der Versuchung nicht widersteht. Am Ende weiß man nichts, gilt aber als qualifiziert. Auch im weiteren Berufsleben kann man sich Infos und Fachwissen nach Bedarf bei der KI abholen. Sie sehen: Versklavung tut gar nicht weh.
Das findet auch ein Kampfjetpilot, der im Nahkampf durch den Himmel donnert. Eine KI projiziert Informationen über feindliche Jets in seinen Helm, wählt die passenden Waffensysteme aus, meldet das Lagebild an die Bodenkontrolle und gibt dem Piloten das Okay für den Abschuss. Dann entscheidet der Mensch zwar über den Einsatz der tödlichen Waffen – merkt aber gar nicht, dass er längst zum ausführenden Organ degradiert worden ist. Sie sehen: Es ist von enormer Bedeutung, wer KI-Software entwickelt, nach welchem Ethos und mit welchen Regeln. Die Entwickler müssen der Revolution Grenzen setzen.
Wer also sind diese Leute? Die mit Abstand erfolgreichste Firma heißt OpenAI. Von ihr stammt die Software-Sensation ChatGPT: der intelligente Chatbot, der Fragen versteht, Texte schreibt wie ein Mensch und juristische Aufnahmeprüfungen meistert (hier können Sie ihn ausprobieren). Die milliardenschwere Softwareschmiede steht im Zentrum der abenteuerlichen Vorgänge dieser Woche. OpenAI ist kein gewöhnliches Unternehmen: Es ist ausdrücklich dem Wohl der gesamten Menschheit verpflichtet, handelt nicht profitorientiert und wird von einem unabhängigen Gremium geführt, in dem Investoren nichts zu melden haben. Klingt beruhigend? Moment, die Story geht noch weiter.
Denn die gutmütige Firma hat einen enormen Finanzbedarf. Künstliche Intelligenz können Programmierer nicht in der heimischen Garage entwickeln. Dafür braucht man sehr viel Platz: ganze Landstriche mit riesigen Serverfarmen. Hinter jedem wichtigen KI-Unternehmen steht deshalb ein Techkonzern: Google beispielsweise oder Zuckerbergs Meta. Hinter OpenAI steht Microsoft. Strategie und Tempo gibt bei OpenAI der unabhängige Vorstand vor. Er ist geschützt vor den kommerziellen Interessen geldgieriger Anleger, selbst so mächtiger wie Microsoft. Klingt immer noch beruhigend?
Dann darf ich Ihnen nun den Protagonisten unseres Thrillers vorstellen: Sam Altman hat OpenAI gemeinsam mit ein paar Mitstreitern gegründet. Von der Technologie hinter künstlicher Intelligenz hat er vermutlich gar nicht so viel Ahnung, aber Investoren schwärmen von seiner Fähigkeit, Mitstreiter zu motivieren und eine kleine Klitsche zu einem milliardenschweren Monster hochzupäppeln. Mächtige Firmenlenker wie Microsoft-Chef Satya Nadella bewundern sein Geschick als Ausnahme-Manager. Die klugen Köpfe, die bei OpenAI den Code in Tastaturen hacken, himmeln ihn an wie einen Halbgott. Und der Vorstand von OpenAI? Hat ihn vor einer Woche ohne Vorwarnung gefeuert.
Das Vertrauen sei zerrüttet, gab das Gremium zu Protokoll. Das mag wohl sein. Denn Altman beschwört zwar routiniert die Risiken der KI und mahnt zur Vorsicht – doch seine Taten sprechen eine andere Sprache: Er geht risikofreudig wie ein Zocker zu Werke, sieht in seinem heiklen Geschäftsfeld vor allem die Chancen und die enormen Profite. Im Vorstand von OpenAI dagegen dominierten die Skeptiker, denen die Gefahren der Technologie auf der Seele lasten. Der tatkräftige Mister Altman agierte kurzerhand an ihnen vorbei. Das kostete ihn seinen Job – doch nach einer Woche wilder Manöver fanden sich seine Gegner selbst auf der Straße wieder. Nachdem die gesamte Belegschaft mit Abwanderung gedroht hatte, schmissen die Vorstände hin. Und schwups ist der Guru zurück in seinem Tech-Tempel. Jetzt ist die Bahn für ihn frei – und für den Durchmarsch des Kommerzes auch.
Risikobereitschaft und Wachstumsgier haben Vorsicht und Gewissenhaftigkeit hinweggefegt. Das wichtigste Unternehmen der wichtigsten Zukunftsbranche ist zurück in den Händen eines Zockers, der vorsichtig tut, aber hemmungslos handelt. Wer sich gefragt hat, ob es wirklich nötig ist, die Risiken der künstlichen Intelligenz zu regulieren und die expandierende Branche an die Leine zu legen, hat durch das Drama dieser Woche die Antwort bekommen. Jetzt müssen Regierungschefs und Minister nur noch aufhören, auf Empfängen und Konferenzen den KI-Propheten nach dem Mund zu plappern. Denn eigentlich ist bald Wochenende und wir wollen uns endlich ohne Sorgen entspannen.
Ohrenschmaus
Apropos Entspannung: Zum Winterbeginn braucht es was Behagliches.