Krieg in Nahost überschattet ESC: „Malmö ist in dieser Woche der Brennpunkt Europas“

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Eigentlich steht der Eurovision Song Contest für Feierstimmung. Aber der Israel-Konflikt treibt düstere Wolken über das Event in Malmö.

Malmö – Weil Schweden mit Loreen den ESC 2023 gewann, ist heuer Malmö Austragungsort. Es ist bereits das dritte Mal nach 1992 und 2013 – aber die Ehre, Gastgeber zu sein, ist getrübt. Der Israel-Konflikt sorgt auch in Schweden für Fronten. So überrascht es nicht, dass Israels Beitrag diesmal von Anfang an mit Gegenwind zu kämpfen hatte. Aufgrund des Gaza-Kriegs wurde von vielen Seiten sogar der Ausschluss Israels vom ESC gefordert. Der Veranstalter, die europäische Rundfunkunion (EBU), ließ die Teilnahme aber zu. Begründung: Der ESC sei unpolitisch.

Für die israelische Sängerin Eden Golan bedeutet die Teilnahme offenbar ein Sicherheitsrisiko. Wie die Bild berichtet, soll die 20-Jährige ihr Hotel in Schweden nur für Proben, Auftritte und Pressetermine verlassen dürfen – zu gefährlich ist es sonst für sie. Berichten schwedischer Medien zufolge kümmert sich der israelische Geheimdienst Shin Bet vor Ort mit um ihre Sicherheit.

Krieg in Nahost und ESC: Demonstranten forderten im April in Malmö den Ausschluss Israels vom Eurovision Song Contest.
Aufgeheizte Stimmung: Demonstranten forderten im April in Malmö den Ausschluss Israels vom Eurovision Song Contest. Weitere Proteste werden in den kommenden Tagen erwartet – pro Palästina und pro Israel. © Johan Nilsson/AFP

Eden Golan und „October Rain“: Israels Beitrag brauchte einen neuen Text

Im Vorfeld hatte es einige Aufregung um Eden Golans Beitrag gegeben. Den ersten eingereichten Text hielt die EBU dann doch für zu politisch. Sie sah in „October Rain“ Hinweise auf die von palästinensischen Terroristen am 7. Oktober in Israel verübten Massaker. Der Text wurde überarbeitet, der Song heißt nun „Hurricane“ und wurde zugelassen. Laut israelischen Medien trägt die Kandidatin bei den Shows ein Kleid, dessen Oberteil an Wundverbände erinnert.

Ich war etwas schockiert, als die EBU das Lied nicht genehmigte.

„Ich war etwas schockiert, als die EBU das Lied nicht genehmigte“, sagt Golan selbst. „In dem Song geht es um ein Mädchen, das seine eigenen Probleme und Gefühle durchlebt, das hat nichts mit dem 7. Oktober zu tun.“ Kommentatoren sehen das anders. Zeilen wie „Es gibt keine Luft zum Atmen mehr“ oder „Sie waren alle gute Kinder, jedes einzelne von ihnen“ beziehen sich ihrer Auffassung nach eindeutig auf die Opfer der Hamas.

Auch in der umgeschriebenen Version finden sich Zeilen, die sich als Verweis auf das kollektive Trauma der Israelis verstehen lassen. „Ich bin immer noch gebrochen von diesem Hurrikan“, heißt es beispielsweise. Der neue Text lasse verschiedene Interpretationen zu, sagt Golan. „Jeder, der es hört, kann sich auf seiner Ebene mit dem Lied identifizieren.“ In ihrer Heimat ist Golans Eurovisionsbeitrag sehr beliebt, ihre Musikvideos laufen andauernd im israelischen Fernsehen.

Auswahl der ESC-Teilnehmer ist immer wieder umstritten

Die Auswahl der Teilnehmer beim Eurovision Song Contest ist immer wieder umstritten. In der Vergangenheit wurden Beiträge trotz klarer politischer Aussagen zugelassen, darunter 1982 der deutsche Siegertitel „Ein bisschen Frieden“ der Sängerin Nicole oder das ukrainische Lied „1944“ von Gewinnerin Jamala 2016, das sich auf die Deportation der Krim-Tataren bezieht.

Abseits aller Textfragen sind Schwedens Sicherheitsbehörden alarmiert. So sehr der Song Contest Jahr für Jahr betont, ein unpolitisches Event zu sein, lässt sich der Schatten des Gaza-Kriegs vom bunten Show-Spektakel nicht fernhalten. Mehr als 100.000 Besucher werden erwartet. „Malmö ist in dieser Woche der Brennpunkt Europas“, sagt Christer Mattsson, Professor für Antisemitismusforschung in Göteborg.

Malmö hat Experten zufolge ein Problem mit Antisemitismus

Brennpunkt auch deshalb, weil Malmö Experten zufolge ein Problem mit Antisemitismus hat. Nach dem Ausbruch des Krieges in Israel und Gaza wurde das noch einmal sichtbarer. „Es gab Karawanen mit palästinensischen Fahnen, die schrien und jubelten. Karawanen von Autos fuhren durch die Stadt und feierten nach den Angriffen“, erinnert sich Fredrik Sieradzki von der jüdischen Gemeinde in Malmö. Seither habe es viele Demonstrationen gegen Israel gegeben. Am Tag des Finales sind ebenfalls Demos angekündigt – pro-palästinensische und auch pro-israelische. Tausende Teilnehmer werden erwartet.

Sie sind so eingenommen, dass sie den Hass, den sie benutzen, nicht erkennen.

Malmö ist eine kompakte Stadt. Vieles spielt sich in der Stadtmitte ab. „Man kann das Problem also auf der Straße sehen, was man in Stockholm oder Göteborg nicht so sehr kann“, sagt Björn Westerström, Forscher eines Projekts der Stadt gegen Antisemitismus. Die südschwedische Stadt hat 360.000 Einwohner, darunter viele mit palästinensischer Abstammung. Westerström betont, dass die israelfeindliche und schnell auch judenfeindliche Stimmung nicht zwingend von bestimmten Personengruppen ausgehe. Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen engagierten sich. „Sie sehen den Antisemitismus nicht. Sie sind so eingenommen, dass sie den Hass, den sie benutzen, nicht erkennen.“ 

Schwedens Inlandsgeheimdienst schließt islamistische Anschläge nicht aus

Der schwedische Sicherheitsexperte und frühere leitende Polizei-Mitarbeiter Jörgen Holmlund ist „in Sorge“ über die Lage auf den Straßen, wie er unserer Zeitung sagte. „Ich denke, das Event in Malmö wird massive Aufmerksamkeit im pro-palästinensischen Lager auf sich ziehen.“ Der schwedische Inlandsgeheimdienst Säpo sei wegen möglicher islamistischer Anschläge auf der Hut. Weitere Brisanz könnten Koranverbrennungen in die Stadt tragen.

Eine erste fand bereits am Freitag statt. Videos in Sozialen Netzwerken zeigen, wie ein Mann und eine Frau auch eine palästinensische Flagge anzünden. Dass eine solch provokante Aktion kurz vor dem ESC genehmigt wurde, sorgte für Kritik. Koranverbrennungen sind in Schweden aber von der Meinungsfreiheit gedeckt.

Wir sind einfach nur ein paar Dudes, die sich hier treffen und Musik machen.

Der deutsche ESC-Teilnehmer Isaak (29) beschwerte sich gegenüber ZDFheute.de über die aufgebrachte Stimmung. „Mir wird vorgeworfen, wenn ich den ESC nicht boykottiere, sei ich ‚Mittäter am Genozid in Gaza‘“, sagte er und fügte hinzu: „Jetzt reißt euch mal zusammen, Leute, habt ihr Lack gesoffen? Wir sind einfach nur ein paar Dudes, die sich hier treffen und Musik machen.“

Einfach nur Musik, so wird es nicht sein. „Sie werden Polizisten sehen, die mit den üblichen Waffen ausgestattet sind, aber auch mit schwereren Waffen“, sagte Polizeichefin Petra Stenkulla. Das seien die Menschen in Schweden und Malmö zwar nicht gewohnt, die Polizei müsse aber „Vorsichtsmaßnahmen ergreifen“, um auf einen „schwerwiegenden Zwischenfall“ vorbereitet zu sein. Auch Verstärkung aus Dänemark und Norwegen wurde angefordert. Eine öffentliche ESC-Party wurde abgesagt.

Holmlund rechnet mit bis zu 100.000 Protestierenden an den ESC-Tagen – das Event zieht sich aufgrund der Halbfinals über die ganze Woche. „Die meisten von ihnen werden zwar harte Worte wählen und Fahnen schwenken, aber im Rahmen der Meinungsfreiheit“, prognostiziert der Dozent der schwedischen Verteidigungshochschule in Stockholm. Die große Gefahr sei, dass sich Anhänger „radikaler Bewegungen“ unter die friedlichen Demonstranten mischen. Die „große Herausforderung“ sei, diese Gruppen fernzuhalten oder zu isolieren. „Wenn sie die Gelegenheit haben, werden sie Angriffe auf die Polizei, das Event oder in diesem Rahmen auf die israelische Performance verüben“, warnt Holmlund.

Schweden erhöht die Terrorwarnstufe

Koranverbrennungen hatten bereits vor der Schweden-Wahl 2022 und im Ringen um Schwedens Nato-Beitritt für Aufsehen gesorgt – im Ausland auch für Ausschreitungen. Allein für Donnerstag sind laut der schwedischen Zeitung Aftonbladet je eine proisraelische und eine propalästinensische Demo in Malmö geplant. Die Koranverbrennung am Freitag fand auf dem zentralen Gustavs-Adolfs-Torg statt. All das kommt zu einem Zeitpunkt, an dem Schweden ohnehin in Terrorsorgen steckt. Im August, sagt Holmlund, habe die Polizei die Gefährdungsstufe auf einer Skala von 1 bis 5 auf 4 erhöht. Holmlund plädiert dennoch für die Meinungsfreiheit. Proteste per se zu unterbinden, sei der falsche Weg.

Vorfreude kommt in Malmö schwer auf. „Viele Juden hofften einfach, dass „die Sache ohne größere Zwischenfälle abläuft“, sagte Fredrik Sieradzki von der jüdischen Gemeinde. „Der ESC sollte ein Fest der Kreativität, des Spaßes, der großartigen Musik sein. Aber Malmö wird ein Ort sein, an dem eine Menge wütender Gefühle auf der Straße gezeigt werden.“

Eden Golan will sich den Wettbewerb nicht vermiesen lassen. „Ich freue mich wirklich und bin sehr aufgeregt“, sagt die Sängerin. Selbst einen Sieg schließt sie nicht aus: „Ich glaube, alles ist möglich.“ (Melissa Erichsen, Florian Naumann, AFP, KNA, wha)

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