Drogenszene in Köln - „Reker spricht von Verwahrlosung. Aber es ist noch viel schlimmer“

Walter Schuch hat sein Geschäft mit Überwachungskameras ausgestattet. Wer sich die Aufnahmen anschaut, merkt schnell, warum. Vor allem nachts versammeln sich im Eingang seines Sanitätshauses am Kölner Neumarkt Drogenabhängige.

Sie breiten ihre Decken und Matratzen aus, legen sich hin, konsumieren ihren „Stoff“. Manche rauchen Crack, andere spritzen sich Heroin. Walter Schuch sieht solche Szenen jeden Tag. „Immer wieder prügeln sich draußen auch Mitglieder unterschiedlicher Dealer-Banden“, sagt er zu FOCUS online.

Der Unternehmer will auf die Zustände am Neumarkt aufmerksam machen. Auf das Drogenproblem, das nicht nur Köln, sondern auch andere Großstädte betrifft. Deswegen sitzt Schuch im Vorstand der Bürgerinitiative „Zukunft Neumarkt“.

Kölner OB Reker spricht von „zunehmender Verwahrlosung“

„Zukunft Neumarkt“ ist ein Zusammenschluss von Anwohnern, Hauseigentümern, Gewerbetreibenden und Geschäftsleuten, die in dem Stadtviertel oder in der Nähe leben. Die Initiative erarbeitet unter anderem Konzepte, um Drogen- und Kriminalitätsprobleme in den Griff zu bekommen.

Vielleicht haben Walter Schuch und seine Mitstreiter jetzt Glück. Denn das Kölner Drogen- und Obdachlosenmilieu - vor allem am Neumarkt - ist gerade ein vieldiskutiertes Thema.

Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) sagte vor wenigen Tagen im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Ja, ich sehe eine zunehmende Verwahrlosung der Stadt. Und die Mittel, dieser Verwahrlosung zu begegnen, sind sehr restriktiv. Einige Städte vertreiben die Obdachlosen und Drogenabhängigen aus der Stadtmitte. Dafür gibt es in Köln keine Mehrheit.“

Schuch wundert sich über ihre Offenheit. „Klar, es gab mehrere Nachfragen, bis sie so deutlich wurde. Aber ich war doch überrascht“, meint der Unternehmer. Gleichzeitig ist er froh, dass über das Thema gesprochen wird.

„Lage ist schlimmer, als Reker sagt“

Am Telefon holt er aus, schildert seine persönlichen Erfahrungen, aber auch Erzählungen anderer. „Die Misere, die wir haben, sind nicht die normalen Drogenabhängigen“, sagt Schuch. „Es sind die auffälligen Konsumenten, solche, die in der Regel auch noch alkoholabhängig und obdachlos sind.“

Sein Sanitätshaus liegt genau neben der Substitutionsambulanz am Neumarkt. Gegenüber befindet sich ein Drogenkonsumraum. Er beobachtet immer wieder, wie die „Auffälligen“ auf offener Straße Crack konsumieren, „20 bis 30 Mal pro Tag“. Davor betteln sie, um das Geld für ihre Drogen zusammenzubekommen, erzählt Schuch. „Die Lage ist eigentlich noch schlimmer, als Reker es sagt.“

Paulo Santo, der seit mehr als 20 Jahren einen Kiosk am Platz zum U-Bahn-Abgang betreibt, beschreibt im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ ähnliche Zustände. Er sagte dem Blatt, am Neumarkt würden sich rund hundert Schwerstabhängige herumtreiben.

„Die Stadt eröffnet hier einen Drogenkonsumraum, kümmert sich aber anschließend um gar nichts“, so Santo. Das würde letztlich nur noch mehr Abhängige anziehen. Manche von ihnen würden den Neumarkt gar nicht mehr verlassen. „Die leben hier“, sagte der Kiosk-Betreiber dem „Stadt-Anzeiger“.

Was kann die Stadt gegen „Verwahrlosung“ tun?

Und: „Mich lassen sie in Ruhe, aber je nach Zustand werden die Passanten zum Teil auch sehr aggressiv angebettelt.“ Schuch kennt Santo. Und er stimmt dem, was der Kiosk-Betreiber erzählt, voll und ganz zu.

Überall, vor allem nachts, seien Drogenabhängige zu sehen, die in Hauseingängen und auf Vorsprüngen lägen, „manche davon hochaggressiv“. Belästigungen, Schlägereien und Drogenkonsum auf offener Straße sind allerdings nur die vordergründigen Probleme.

Schuch, der sich bei der Bürgerinitiative immer wieder mit Hauseigentümern austauscht, sagt: „Ich kenne einen Hauseigentümer, der sechsstellige Abstriche beim Verkauf seiner Immobilie machen musste“, sagt er. Ein Haus in der Nähe eines Drogen-Hotspots - das kommt bei potenziellen Käufern offensichtlich nicht gut an.

Aber was tun gegen die verheerenden Zustände, die offenbar lange bekannt sind? Eine Sprecherin der Stadt Köln beteuert auf FOCUS-online-Anfrage, man verfüge über „ein hoch entwickeltes, breit aufgestelltes und äußerst differenziert ausgebautes Drogenhilfesystem. Soziale, psychologische und medizinische Hilfen und Interventionsformen ergänzen einander“.

So will die Stadt Köln gegen Drogenproblematik vorgehen

Die Finanzierung der Hilfsangebote sei grundsätzlich durch die gesetzlichen Sozialversicherungsträger, kommunalisierte Landesmittel, Leistungen des Landschaftsverbandes Rheinland und „in erheblichem Umfang durch die Stadt Köln gesichert“.

Wie die Sprecherin weiter erläutert, verteilen sich die Angebote dezentral über die ganze Stadt Köln und umfassen niedrigschwellige Kontaktstellen, das Aufsuchende Suchtclearing (ASC), Drogenkonsumräume, Suchtberatungsstellen sowie Substitutionsambulanzen mit psychosozialer Betreuung.

Die Öffnungszeiten des Drogenkonsumraumes am Neumarkt seien in der Vergangenheit sukzessive ausgeweitet worden - „einhergehend mit einer personellen Verstärkung des Aufsuchenden Suchtclearings (ASC)“. Und: In diesem Jahr soll ein weiterer Drogenkonsumraum auf der rechtsrheinischen Seite Kölns in Kalk den Betrieb aufnehmen.

Das Problem mit den Drogenkonsumräumen

Menschen wie Walter Schuch sehen in den Konsumräumen keine Lösung des Problems. Im Gegenteil. „Die Situation läuft aus dem Ruder“, sagt der Unternehmer. 

In einem Beitrag seiner Bürgerinitiative vom Mai 2024 steht, dass sich die Drogenszene am Neumarkt trotz des Konsumraums vergrößert und sich „negative Erfahrungen“ verstärkt hätten. Abgesehen davon würden teure Sicherheitskräfte die Einrichtungen, die einen risikominimierenden Konsum illegaler Drogen abseits der Öffentlichkeit ermöglichen sollen, überwachen.

Auch die Kölner Polizei sieht Drogenkonsumräume kritisch. Sie wirken in den Augen einiger Beamten wie Magneten für illegale Dealer - immerhin müssen die Suchtkranken ihren „Stoff“ selbst mitbringen. Wo sich Dealer aufhalten, sammeln sich auch Konsumenten. Polizeipräsident Johannes Hermanns schlug daher Ende 2024 im Gespräch mit dem WDR eine kontrollierte Abgabe harter Drogen in den Konsumräumen vor.

„Das hätte den Vorteil, dass die Schwerstabhängigen sich nicht an verunreinigter Ware bedienen müssen und wir auch den Handel nicht unbedingt in die Nähe des Konsumraums ziehen.“

Obdachlose in Köln

Reker nannte im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ aber nicht nur Drogenabhängige als Faktor für die Verwahrlosung der Stadtmitte. Sie sprach auch von Obdachlosen, die nicht vertrieben werden könnten.

Wie aus mehreren übereinstimmenden Medienberichten hervorgeht, waren 2024 rund 11.740 Menschen in Köln obdachlos. Eine, die sich intensiv mit ihnen beschäftigt, ist Petra Hastenteufel. Sie arbeitet als Streetworkerin bei der Beratungsstelle Oase Benedikt Labre.

„Ob die Stadt Köln verwahrlost, liegt im Auge des Betrachters. Wogegen ich mich allerdings wehren möchte ist, Obdachlosigkeit mit Verwahrlosung gleichzusetzen“, sagt sie zu FOCUS online.

„Ich erlebe im Straßenbild einige wenige, die augenscheinlich auffällig erscheinen. Jedoch empfinde ich den größten Teil der Menschen als unauffällig und fast schon unsichtbar.“ Gründe, seine Wohnung zu verlieren, gibt es laut der Sozialarbeiterin viele. Trennungen oder psychische Probleme können dazu führen, dass Menschen alles über den Kopf wächst, sie ihre Post nicht mehr öffnen „und plötzlich der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht“.

„Obdachlose sind ein Abbild der Gesellschaft“

Auch hohe Mieten können laut Hastenteufel ein Grund für Obdachlosigkeit sein. Genau an dieser Stelle muss man ihrer Meinung nach auch ansetzen, um das Stadtbild zu verändern. Mehr bezahlbarer Wohnraum muss her - und weniger Stigmatisierung, findet die Sozialarbeiterin.

„Als quasi ´letztes Glied der Kette´ wird Obdachlosen der Zugang zu Wohnraum erschwert. Hier sind nicht nur die Stadt und ansässige Wohnungsbaugesellschaften gefragt, sondern jeder einzelne der Stadtgesellschaft, der über Wohnraum verfügt, darf sich gerne an der Lösung des Problems beteiligen.“

Aber auch ein anderer Punkt ist ihr wichtig. „Obdachlose Menschen sind ein Abbild der Gesellschaft. Süchte, Verwahrlosung, psychische Krankheiten und Armut existieren genauso innerhalb der eigenen vier Wände“, sagt Hastenteufel.