„Wir sind mit Ungeimpften nicht gut umgegangen“ - Virologe Streeck: Deutschland hat beim Thema Impfen zwei Fehler gemacht

Wir haben in der Pandemie den Schutz vor Infektionen vor alles gestellt. Wolfgang Schäuble hat das damals sehr treffend gesagt: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist (...) nicht richtig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen.“ Es haben sich zum Teil grausame Szenen abgespielt, wo Menschen in den letzten Tagen ihres Lebens allein geblieben sind. So etwas darf sich nicht wiederholen. 

Das könnte also Teil unserer Aufarbeitung sein. Nicht nur Sie, sondern auch Ihr Kollege Christian Drosten hat ein Buch geschrieben. Dazu haben Sie sich kritisch geäußert, es wäre eine Rechtfertigung, dass in Deutschland alles gut gelaufen wäre. Erklären Sie doch mal genauer.

Streeck: Ja, in seinem Buch gab es sinngemäß ein Zitat, dass Deutschland gut durch die Pandemie gekommen wäre. Da frage ich mich: Woran machen wir das denn fest? Wenn wir die verschiedenen Metriken anschauen, landet Deutschland überall nur im Mittelfeld. 

Ganz egal, ob das die Übersterblichkeit ist, wie die Gesellschaft die Maßnahmen mitgetragen hat, der Anteil psychischer Erkrankungen oder die Länge der Schulschließungen.

Wir haben etwa Länder, die weniger Maßnahmen gehabt haben aber auch weniger Übersterblichkeit. Innerhalb von Europa waren bei uns die Schulen mit 183 Tage mit am längsten geschlossen. Zum Vergleich: Ein Schuljahr hat 184 Schultage. Nur Polen hat uns übertroffen mit mehr als 200 Tagen. Bringt man das wiederum zusammen mit der Übersterblichkeit zeigt sich: Schulschließungen hatten keinen sonderlichen Einfluss.

Ein klares Urteil lässt sich also nicht herleiten. Es gibt jedoch einige Länder, wo das Vertrauen in die Arbeit der Regierung nicht so stark gesunken ist wie bei uns: zum Beispiel Schweden.

Schweden wurde gerne als Gegenentwurf zu anderen Ländern genannt.

Streeck: Ja, dabei will ich nicht sagen, dass sie alles richtig gemacht haben. Aber die Menschen in Schweden finden nicht, dass ihr Weg „gescheitert“ ist, wie es in deutschen Medien hieß, sondern finden, dass sie im Großen und Ganzen ganz gut durch die Pandemie gekommen sind. Sie haben keine Spaltung der Gesellschaft in dem Maße wie wir sie haben.  

Das heißt, was müsste in Deutschland jetzt geschehen?

Streeck: Ich würde mir wünschen, dass wir Corona auf drei Ebenen aufarbeiten. Die erste ist die Wissenschaft. Eine große Konferenz aus allen Fachbereichen sollte in Arbeitsgruppen durch wissenschaftliche Analyse interdisziplinär ausarbeiten: Was sind die Handlungsempfehlungen für eine nächste derartige Krise? Dafür braucht es nicht nur die Virologie, sondern viele verschiedene Fachbereiche: Rechtswissenschaften, Soziologen, Psychologen, Philosophen und und und. 

Auch die Medien sollten sich kritisch mit sich selbst beschäftigen. Zum Beispiel hinterfragen: Welchen Sichtweisen wurde wie viel Raum geschenkt und war das retrospektiv betrachtet so richtig?  Die dritte Ebene ist die gesellschaftliche Aufarbeitung. Von all dem trennen, möchte ich die politische Dimension. Da stellt sich unter anderem die Frage zu den Entscheidungswegen. 

Das Problem der Spaltung haben Sie jetzt immer wieder angesprochen. Ein Thema, das die Gesellschaft bis heute spaltet, ist das Impfen. Was ist gut gelaufen, was ist schlecht gelaufen?

Streeck: Gut gelaufen ist, dass wir so schnell einen Impfstoff hatten. Dann sind leider sehr schnell zwei Fehler passiert. 

Welche waren das?

Streeck: Erstens wurde der Schutz vor der Infektion nach vorne gestellt. Der Anspruch an den Impfstoff wurde sehr hochgeschraubt. Nämlich, dass der Impfstoff die Pandemie beenden würde. Der Schutz vor der Infektion war aber nicht gut durch klinische Studien belegt. Man hat also etwas kommuniziert, was so am Ende nicht haltbar war.

Da haben Politiker wie Herr Lauterbach mit dazu beigetragen…

Streeck: Ja, auch die Kommunikation, dass die Impfung „nebenwirkungsfrei“ sei, war wirklich nicht gut. Zweitens und auch darüber müssen reden: Wir, als Gesellschaft, sind mit Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten, nicht gut umgegangen. Man hat sie zum Teil ausgegrenzt, diffamiert, diskreditiert. Man hat ihnen die Schuld an dieser Pandemie gegeben. Das war einfach falsch. Da ist man mit einem Anteil der Bevölkerung, rund 20 Prozent, nicht gut umgegangen. Es wurden Schuldige gesucht, wie es bei der Pest mit den Juden gemacht wurde und bei HIV mit den Homosexuellen. Wir haben aus unserer Geschichte nicht gelernt. Der wahre Feind ist doch das Virus, nicht der Mensch.

So haben sich viele Menschen gegeneinander verfeindet.

Streeck: Und da sitzt der Stachel wirklich tief. Viele Menschen fühlten sich nicht mehr als Teil des gesellschaftlichen Lebens. 

Wie bekommen wir denn den Stachel wieder gezogen?

Streeck: Ich glaube, dazu gehört das, was Jens Spahn sehr früh aussprach: Wir müssen uns viel verzeihen. Dazu ist es notwendig, dass man auch alles aussprechen darf! 

Wenn Sie nach vorne blicken und ein Zukunftsszenario für die nächste Pandemie entwerfen. Was würden wir nächstes Mal anders oder besser machen?

Streeck: Eine Lehre, die wir daraus gezogen haben, ist sicherlich, dass wir keine monothematische Sicht mehr auf eine solche Pandemie haben. Was sich nun schon mit Expertenräten beginnt zu etablieren, sollten wir professionalisieren. In England gibt es einen Government Chief Scientific Advisor, der die Expertengremien mit unterschiedlichen Fachbereichen unter sich vereint und die wissenschaftliche Debatte an die Regierenden weitergibt. Auf dieser Basis können dann politische Entscheidungen gefällt werden.

Wenn wir schon bei der Politik sind. Sie möchten ja in den Bundestag. Was könnten wir dann von Ihnen erwarten?

Streeck: Für mich ist der Schritt in die Politik eine logische und emotionale Konsequenz aus den vergangenen Jahren der Pandemie. In Zeiten multipler Krisen ist es sinnvoll, wenn Menschen mit Praxiserfahrung die Politik unterstützen und andere Sichtweisen beisteuern. Die Menschen erwarten Politiker, die Meinungen trotz Gegenwinds vertreten, die mit wissenschaftlicher Klarheit pragmatisch Probleme lösen. Das ist mein Anliegen. 

Bis es so weit ist, noch ein Blick auf die aktuelle Corona-Lage: Was erwartet uns für ein Winter mit XEC, KP.3.1.1, MC.13 und so weiter?

Streeck: Wir sehen jetzt schon relativ viele Corona-Infektionen. Neben den Rhinoviren ist das Coronavirus am stärksten verbreitet. An den Varianten würde ich das gar nicht festmachen. Denn natürlich entwickeln diese sich immer weiter und sind aber alles noch Sublinien von Omikron. Auch wenn ich keine genaue Vorhersage treffen kann, werden wir wahrscheinlich im Herbst und Winter wieder mehr Infektionen haben. Diese sind für die Einzelnen immer noch unangenehm mit Fieber, Abgeschlagenheit, Müdigkeit. Das kann einen schon einmal ein paar Tage ans Bett fesseln.

Dennoch haben wir eine hohe Grundimmunität. Die meisten hatten schon einmal Corona, die Mehrheit ist zusätzlich geimpft. Dieses Jahr wird nicht viel anders sein als vergangene Saison. Ich erwarte nichts Außergewöhnliches. Im Gegenteil: Je häufiger wir Kontakt mit dem Virus haben, desto stärker wird das Immunsystem. Älteren mit einem hohen Risiko für einen schweren Verlauf rät die Ständige Impfkommission zur Impfung. Für den Rest der Bevölkerung gibt keine besonderen Empfehlungen.

Sprich, damit sind wir letztlich dort angekommen, wohin wir wollten, nämlich dass wir mit dem Virus leben.

Streeck: Genau, so ist es.