Dramatischer Wandel im Stromnetz – „Wenn es so weitergeht, kommt mehr Druck auf die Energiemärkte zu“
Ein Energiemanagement-Spezialist rät zu Anpassungen beim Strom. Das betrifft auch das Netzentgelt. Es gehe darum, „hohe Preise“ zu vermeiden.
München – Vor einigen Wochen sorgte die Bundesnetzagentur für Aufsehen in der Industrie: Die Behörde plant, die Netzentgelte anzupassen. Aktuell profitieren Unternehmen mit einem gleichmäßigen, hohen Stromverbrauch vom sogenannten Bandlastprivileg – eine Regelung, die seit Jahren fester Bestandteil des Industriestrompreises ist. Doch in einem Energiemarkt, der zunehmend von erneuerbaren Energien und deren Schwankungen geprägt ist, könnte diese Praxis bald der Vergangenheit angehören. Was bedeuten diese möglichen Veränderungen für die Industrie? Darüber haben wir mit dem Münchner Unternehmen ecoplanet gesprochen.
Massiv steigende Strompreise – Netzentgelte richten sich an veraltete Parameter
Herr Dekorsy, Herr Keppler, wie schätzen Sie die aktuelle Praxis der Netzentgelte für die Industrie ein?
Dekorsy: Da müssen wir erst einen Schritt zurücktreten. In unseren Augen, und insbesondere in den Augen der Kunden, hat bis vor drei bis fünf Jahren eigentlich kein Kunde so richtig auf Energiekosten geschaut. Der Grund dafür ist, dass die Preise historisch sehr gering waren. Viele Unternehmen haben ihre Stromverträge einfach zum gleichen Preis beim lokalen Stadtwerk verlängert, wenn diese ausgelaufen sind – einen Haken gesetzt und weitergearbeitet.

Über die letzten drei Jahre hat sich daran viel verändert, weil die Unternehmen jetzt merken, dass die Preise sehr stark gestiegen sind. Heute sind sie immer noch doppelt so hoch wie vor fünf Jahren. Zusätzlich ist die Volatilität an den Märkten höher. Tagsüber gibt es eine sechsfache Volatilität im Vergleich zu den Werten von vor fünf Jahren. Das liegt am Ausbau der erneuerbaren Energien, und es bedeutet, dass flexible Tarife viel mehr Optionen bieten, um Kosten zu sparen.
Die Netzentgelte dagegen folgen heute noch einer Struktur, die eher zu den Strom- und Energiepreisen von vor fünf Jahren passt. Sie sind sehr stabil und gleichförmig. Egal, ob ich am 1. Januar zahle oder am 31. Dezember, die „Netzmiete“, wie ich die Netzentgelte auch nenne, bleibt immer gleich. Das wiederum hat dazu geführt, dass die Unternehmen versuchen, die Maximallast an Kosten im Jahr so gering wie möglich zu halten, während der Betrieb läuft.
Flexibles Stromnetz erfordert neue Regeln – Auch beim Netzentgelt
Wenn Sie sagen, die Volatilität ist tagsüber höher, heißt das, der Strom ist zum Beispiel um 12 Uhr teurer als um 16 Uhr?
Dekorsy: Genau andersherum. Der Strompreis wird vom Ausbau der erneuerbaren Energien stark angetrieben. Je mehr Solar- und Windstrom sie im Strommix haben, umso günstiger ist die Energie, weil es, einfach ausgedrückt, die günstigere Energie ist. Das Problem dabei ist folgendes: Wenn die Sonne gerade am meisten Energie spendet, also gegen Mittag, ist die Nachfrage oft geringer. Abends passiert das Gegenteil. Die Leute kommen von der Arbeit nach Hause und nutzen ihre Geräte, aber die Sonne geht unter.
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Und wo ist der Bedarf am höchsten?
Keppler: Es sind insbesondere die frühen Morgenstunden, in denen der Bedarf hoch ist. Die Unternehmen in der Industrie schalten ihre Maschinen an, alles produziert und arbeitet, aber Photovoltaik greift noch nicht, und Windkraft ist nicht immer verlässlich. Wir erwarten, dass die dynamischen Netzentgelte, wenn sie denn kommen, dieser Entwicklung Rechnung tragen. Das durchschnittliche Industrieunternehmen wird nicht nur im Status quo bleiben, was die Netzentgelte angeht, sondern sie hängen genau in dem Zeitfenster, zu dem der Preis noch teurer wird und die Netzentgelte steigen. Da müssen wir reagieren, um allzu hohe Preisanstiege zu vermeiden.

Wie schnell kann denn ein dynamisches Netzentgelt kommen?
Keppler: In Teilen sehen wir schon für das nächste Jahr, dass das dynamische Netzentgelt auf uns zukommt. Netze BW Baden-Württemberg hat vor ein paar Wochen einen Preisplan für 2025 veröffentlicht, und da haben sie diese Differenzierung innerhalb der Tage bereits vorgenommen.
Was für Kosten kommen da auf uns zu, haben Sie da eine Prognose?
Bis zu 100 Milliarden Euro für Netzausbau – Ausbauziele noch lange nicht erreicht
Keppler: Wir sind mit unseren Ausbauzielen noch nicht fertig, die die Bundesregierung und die EU mit dem European Green Deal festgelegt haben. Wenn es so weitergeht, kommt da noch mehr Druck auf die Energiemärkte zu – sowohl hinsichtlich der Volatilität als auch bei der Belastung der Netze. Es kursieren Zahlen zwischen 20 Milliarden Euro und 100 Milliarden Euro, die wir in die Netze investieren müssten, um sie auszubauen.
Welche Risiken und Chancen kommen mit dem von der Regierung geplanten flexiblen Netzentgelt auf die Unternehmen zu?
Dekorsy: In der Masse sind Unternehmen nicht darauf vorbereitet, am Strommarkt mit Flexibilität umzugehen. Das ist ein Problem, weil sie künftig dafür bestraft werden, wenn sie ihre Höchstlast in den Morgenstunden beibehalten. Hier haben Unternehmen klar ein Risiko, aber es kann, je nachdem wie man es betrachtet, auch eine Riesenchance sein.
Warum?
Dekorsy: Ich kann mich in meiner Industrie stark von meinen Wettbewerbern abheben, wenn ich flexibel mit diesen Netzentgelten und diesen Preisen umgehen kann. In der Kalkulation, die ich Kunden gegenüber mache, spielen Energiekosten eine derart große Rolle, dass ich eine viel ausgewogenere Kostenlogik anbieten kann als meine Wettbewerber.
Energetische Unterstützung von ecoplanet – „Maßnahmen sind viel planbarer als man denkt“
Sie wollen Unternehmen dabei unterstützen, eine flexiblere Energienutzung einzuführen. Wie sieht das bei ecoplanet in der Praxis aus?
Keppler: Zum Beispiel können Unternehmen Flexibilitäten nutzen, die sie in der Infrastruktur haben. Es ist bei Glashütten oder Edelstahlwerken etwa so, dass sie auswählen können, ob sie ihren Strom aus Gas oder Strom beziehen wollen. Da kommt es darauf an, dass sie ihren Stromverbrauch umschichten und über eine intelligente Steuerung dorthin bringen, wo sie billiger wegkommen. Aber auch bei anderen Unternehmen sind da enorme Potenziale.
ecoplanet
ecoplanet bietet Lösungen im Energiemanagement an und arbeitet in zwei Fokusbereichen: Industrieunternehmen und Unternehmensgruppen. Unter den zweiten Punkt fallen zum Beispiel Gruppen von Seniorenresidenzen oder Autowerkstätten mit einer Vielzahl von Standorten.
Man kann zwar nicht von beispielsweise einem Automobilzulieferer verlangen, dass er seine Mitarbeiter erst drei Stunden später anfangen lässt, aber innerhalb der Schicht kann man die Einzelprozesse eventuell so umlagern, dass die energieintensiven Prozesse am Ende der Schicht stattfinden und die energieärmeren Prozesse in die Morgenstunden vorzieht. Das klingt zwar auf den ersten Blick nach viel Aufwand, trotzdem sind diese Maßnahmen viel planbarer als man denkt. Die Energiepreise sind zwar von Tag zu Tag unterschiedlich – die Spitzenzeiten verändern sich jedoch nicht grundsätzlich.
ecoplanet bietet hier eine Software an. Was steckt dahinter?
Keppler: Eines vorweg: Unsere Software können wir an den Standorten ganz ohne eigene Extra-Hardware anschließen. Sie zeigt die Potenziale, weil wir in ihr sowohl die Infrastruktur, die Prozesssicht und die Energiemarktsicht kombinieren. Eines unserer Module kann zum Beispiel Elektroheizgeräte überwachen und diesen dann mitteilen, ob gerade mit Strom oder mit Gas geheizt wird – je nachdem, was gerade wirtschaftlich ist.

Dekorsy: Mittels künstlicher Intelligenz kann die Software zum Beispiel Lastgänge (detaillierte Auflistung des jährlichen Leistungsbezugs, Anm. d. Red.) analysieren und greift auch auf historische Verbrauchsdaten zurück. Das bedeutet, sie kann schon nach zwei Wochen sagen, wo unregelmäßiger Energieverbrauch vorliegt und was die Unternehmen tun können, um sich da zu verbessern.
Keine planbare Energieerzeugung – „Das ist vorbei“: ecoplanet schlägt Schritte vor
Wie müsste die Regierung die Netzentgelt-Revolution gestalten, um optimal auf die Veränderungen am Strommarkt zu reagieren?
Keppler: Die geplante Netzentgelt-Reform wird Unternehmen, die sich nicht flexibilisieren, wehtun. Auf diese Veränderung müssen sie reagieren. Wir haben keine kontinuierlich planbare Energieerzeugung mehr – das ist vorbei. Eine Dauerlast von 7.000 bis 8.000 Volllaststunden pro Jahr kann und darf nicht mehr subventioniert werden, das passt nicht mehr in die Energieinfrastruktur hinein. Jetzt Kosten-Incentives zu setzen, um die Unternehmen zum Umschwenken zu bringen, finden wir richtig.
Ich würde mir außerdem wünschen, dass die Polemik aus der Diskussion verschwindet und die Regierung klar aussagt, dass diese Veränderung, die wir durchmachen, einfach notwendig ist. Da kommen wir nicht drumherum. Und zuletzt müssen wir weg von der Problemdiskussion und hin zu einer Lösungsdiskussion. Und die Unternehmen müssen aufhören, sich ohnmächtig zu fühlen, und stattdessen die Chancen sehen.