Nach fast 30 Jahren: Vermieterin kündigt Senioren-Ehepaar fristlos – Überraschung bei Ortstermin
Nach einem knapp 30-jährigen Mietverhältnis erhält ein hochbetagtes Ehepaar in Gießen eine fristlose Kündigung wegen eines angeblichen Mietrückstands. Was folgt, ist ein Rechtsstreit.
Gießen - Mit Unterstützung des Mietervereins hat sich ein hochbetagtes Mieterehepaar vor dem Amtsgericht Gießen erfolgreich gegen eine fristlose Kündigung zu Wehr gesetzt. Vor dem Rechtsstreit wurde die länger als zehn Jahre gezahlte Brutto-Miete von 500 Euro (350 Euro Kaltmiete und 150 Euro Nebenkosten) im Jahr 2022 einvernehmlich zwischen Mietern und Vermieterin von 500 auf 600 Euro erhöht.
In der Nebenkostenabrechnung für den Zeitraum Mai 2021 bis April 2022 wurde eine Vorauszahlung von 1800 Euro angegeben.
Kündigung nach fast 30 Jahren – Ehepaar in Gießen wehrt sich gegen fristlose Kündigung
Mit Schreiben vom 31. August 2023 kündigte die Vermieterin dem Mieterehepaar nach fast 30-jährigem Mietverhältnis wegen eines angeblichen Mietrückstands von 1636,16 Euro fristlos. Da die Mieter nicht auszogen, schickte die Vermieterin am 16. Mai 2024 eine weitere außerordentliche Kündigung, hilfsweise eine fristgerechte Kündigung zum 28. Februar 2025, die mit einer Bedrohung der Vermieterin begründet wurde. Die Mieter hätten gedroht, die Wohnung verwüsten zu wollen und der Vermieterin das Leben schwer zu machen.
Die ordentliche Kündigung zum 28. Februar 2025 wurde damit begründet, dass das streitgegenständliche und von der Klägerin selbst bewohnte Anwesen nicht mehr als zwei Wohnungen habe. Die Vermieterin erhob Räumungsklage. Die beklagten Mieter beantragten, die Klage abzuweisen sowie hilfsweise ihnen eine angemessene Räumungsfrist zu gewähren, auch im Hinblick auf ihr hohes Alter und ihren Gesundheitszustand.
Dritte eigenständige Wohnung bei Ortstermin festgestellt
Es gab einen Ortstermin. Dort wurde festgestellt, dass es neben den Wohnungen der Beklagten und der Klägerin in dem Haus auch eine dritte eigenständige Wohnung im Souterrain gab. Diese Wohnung im Souterrain wies die Merkmale einer abgeschlossenen Wohnung auf. Es waren eine Küche mit Versorgungsanschlüssen, eine Sanitäranlage, Heizkörper mit Verbrauchserfassungsgeräten, Klingel im Hauseingangsbereich, Briefkasten, separater Stromanschluss und Wasserzähler vorhanden. Es stellte sich heraus, dass die Wohnung von einer Einzelperson oder Familie genutzt worden war.
Das Gericht kam in seinem Urteil zu dem Ergebnis, dass beide außerordentlichen Kündigungen unwirksam gewesen seien. Es könne offen gelassen werden, ob ein berechtigter Zahlungsrückstand bestanden habe. Aufgrund der unbeanstandeten Zahlungen der Mieter in Höhe von 500 Euro seit 2013 hätte es zunächst einer Abmahnung bedurft. Denn für die Vermieterin hätte erkennbar sein müssen, dass die Mieter aufgrund des Zustimmungsverlangens zur Mieterhöhung davon ausgingen, der nunmehr geschuldete Bruttomietzins betrage 600 Euro. Der sei von ihnen auch unstreitig gezahlt worden.
Nun verlangt die herrschende Rechtsprechung zwingend eine Abmahnung, sofern der Zahlungsverzug auf einem für den Vermieter offenkundigen Versehen beruht. Die Vermieterin habe rechtsmissbräuchlich nach § 242 BGB gehandelt, weil sie über einen Zeitraum von 16 Monaten zugewartet habe, bis der vermeintliche Zahlungsverzug einen kündigungsrelevanten Umfang erreicht habe.
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Gericht klärt Zahl der Wohnungen
Die hilfsweise fristgerechte Kündigung sei ebenfalls rechtsmissbräuchlich erfolgt, da ein Zeitraum von mehr als sieben Monaten zwischen dem behaupteten Fehlverhalten der Mieter (Drohung) und der Kündigung verstrichen sei. Auch die auf § 573a (BGB) gestützte Kündigung, wonach ein Mietverhältnis über eine Wohnung in einem vom Vermieter selbst bewohnten Gebäude mit nicht mehr als zwei Wohnungen vom Vermieter gekündigt werden kann, ohne dass es eines berechtigten Interesses bedarf, sei unwirksam. Denn es handele sich um ein Haus mit drei Wohnungen.
Die Vermieterin habe also keinen Anspruch auf Herausgabe und Räumung der Wohnung, da das Mietverhältnis nicht wirksam beendet worden sei. Das Urteil ist rechtskräftig. Beim Mieterverein begrüßt man die Gerichtsentscheidung, die zeige, dass es für Mieter sinnvoll sei, sich gegen eine unbegründete Wohnungskündigung des Vermieters zu wehren. (pm)
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