Seit der Nord-Stream-Explosion pumpt Deutschland Milliarden in die Abkehr von russischem Öl. Die zweite Pipeline soll Abhilfe schaffen. Geht das überhaupt?
Berlin – Lange Zeit schien die Nord Stream-Explosion in Vergessenheit zu geraten. Schweden, in dessen Herrschaftsgebiet zwei Explosionen stattgefunden hatten, hatte die Ermittlungen gar eingestellt. Der Sabotageakt würde Deutschland Milliarden kosten, „Bis heute verschlingen allein die gemieteten LNG-Plattformen täglich rund eine Million Euro an Kosten“, schrieb zum Beispiel die WirtschaftsWoche erst vor einigen Tagen (22. August 2024). Dass Sprengung Deutschland um jede Menge billige Energie gebracht habe, ist auch in den sozialen Medien immer wieder zu lesen. Der Täter müsse daher zur Rechenschaft gezogen werden, die Bundesrepublik brauche außerdem eine Alternative. Aber was steckt tatsächlich dahinter?
Nord-Stream-Pipeline explodiert – das sorgte aber nicht für Gas-Stopp
Ein Blick zurück: Im September 2022 fanden entlang der Nord-Stream-Pipeline (es existieren zwei Pipelines, die parallel verlaufen) vier Explosionen statt. Sie zerstörten beide Stränge von Nord Stream 1 und einen Strang von Nord Stream 2. Durch die Pipeline 1 floss russisches Gas nach Deutschland, Nummer 2 sollte das Volumen erweitern. Tonnenweise Gas trat aus; die Gaslieferungen standen still.
Allerdings war auch vor den Explosionen schon kein Gas mehr nach Deutschland geflossen. Die letzten Monate, in denen noch reguläre Gaslieferungen durch die Nordstream-Pipelines stattfanden, zeigen einen graduellen Niedergang. Zwischen Januar und Juni 2022 floss Gas in Höhe von 1.350 bis 1.700 Gigawattstunden pro Tag von Russland nach Deutschland. Mitte Juni gingen die Lieferungen bereits drastisch zurück, betrugen nurmehr die Hälfte der vorigen Menge – wenn überhaupt.
Im Juli kam es zu einem kurzen Lieferstopp wegen regulärer Wartungsarbeiten (11. bis 21. Juli). Anschließend nahm der Betreiber die Lieferungen wieder auf, allerdings, verglichen mit der ersten Jahreshälfte, in einem deutlich geringeren Maß. Bis Ende August 2022 flossen täglich rund zwischen 346 und 700 Gigawattstunden (Quelle: Nordstream.Info, physical flow per day).
Am 31. August war dann Schluss. Zwar floss am 2. September 2022 noch einmal Gas im Wert von 40.000 Kilowattstunden durch die Pipelines, aber der Betrieb erreichte nie wieder die alte Kapazität. Eine Presseerklärung dazu hatte Nord Stream nicht veröffentlicht, auf Anfrage durch IPPEN.Media hatte sich das Unternehmen noch nicht gemeldet. Die Explosion erfolgte am 26. September, also erst ziemlich genau zwei Wochen nach der letzten Lieferung.
Warum hatte Russland nicht mehr durch Nord Stream geliefert?
Dabei stellte sich vor allem die Frage: Woran lag das? Der Spiegel hatte am 2. September 2022 von einem Ölleck berichtet, das der russische Staatskonzern Gazprom als Grund für die Verringerung der Gaslieferungen genannt hatte. „Der Gastransport zur Nord-Stream-Pipeline wurde bis zur Behebung der Mängel vollständig eingestellt“, zitierte das Magazin damals die Firma Gazprom. Der Gasriese aus Russland hatte sich dabei auf eine Weisung der russischen Aufsichtsbehörde Rostechandsor berufen.
Drei Tage später, am 5. September, kam dann eine neue Begründung aus Russland. Dmitry Peskov, der Kreml-Sprecher, machte jetzt die westlichen Sanktionen für den Lieferstopp verantwortlich. Russland werde die Lieferungen nicht fortsetzen, solange westliche Länder wie Deutschland oder das Vereinigte Königreich die Sanktionen gegen Russland aufrechterhielten. Erst, wenn diese fallen, würde Russland wieder Gas liefern. „Andere Gründe, die Probleme mit dem Pumpsystem auslösen könnten, gibt es nicht“, zitierte der britische Guardian den Kreml-Sprecher.
Das lässt den Schluss zu, dass die Explosionen an Nord Stream 1 und 2 zwar Sachschäden verursacht, an dem Stillstand der Gaslieferungen jedoch nichts verändert hatten – dieser ging vollumfänglich von Russland aus. „Ab dem Frühjahr 2022 wurde die Gasversorgung ohne Grund immer mehr zurückgefahren“, sagte eine Sprecherin des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) auf Anfrage von IPPEN.Media. „Russland hat die Gasversorgung einseitig und ohne rechtliche Gründe eingestellt.“
Nord Stream 2 als Alternative
Vonseiten verschiedener politischer und wirtschaftlicher Akteure ist seit den Explosionen öfters von Nord Stream 2 zu hören – und warum Deutschland nicht einfach den Betrieb über die zweite Pipeline weiterlaufen lasse. „Eine kommerzielle Inbetriebnahme der Nord-Stream-2-Pipeline ist nicht möglich, da die Nord-Stream-2-Betreiberin nicht nach §§ 4b, 10 ff. Energiewirtschaftsgesetz als unabhängige Transportnetzbetreiberin durch die Bundesnetzagentur zertifiziert ist“, hatte die Bundesregierung im August 2022 durch den damaligen Staatssekretär Patrick Graichen mitgeteilt. Nach jetzigem Stand (August 2024) ist diese Zertifizierung noch immer nicht erfolgt.
Im Oktober 2023 hatte die BSW-Chefin Sahra Wagenknecht Kritik daran geübt, dass „zahlreiche“ EU-Länder weiter russische Erdgaslieferungen in Anspruch nehmen und auf Wladimir Putins Vorschlag verwiesen, die Gaslieferungen durch die intakte NS2 aufzunehmen. Philipp Nimmermann, mittlerweile auf Graichens Posten, hatte hier ebenfalls auf die gestoppten Lieferungen durch NS1 verwiesen und klargemacht, dass Russland bestehende Alternativen (etwa Gaslieferungen über die Jamal-Pipeline über Polen oder das ukrainische Gastransitsystem) bislang ignoriert hatte. Russland könnte auch ohne Nordstream nach Deutschland liefern, tut es aber nicht.
Take-or-Pay – Zahlt Deutschland für Gas, das es nicht erhält?
Wagenknecht lag dabei zumindest mit einer Sache richtig: Länder wie Österreich hängen in Langzeitverträgen mit Russland, aus denen sie sich nicht so leicht lösen können. Auch Deutschland hatte Verträge mit Russland aufgesetzt, sogenannte Take-or-Pay-Verträge. Diese sehen vor, dass der Produzent (beziehungsweise der Lieferant) die Verpflichtung übernimmt, Erdgas bis zu einer im Vertrag bestimmten Menge zu liefern. Der Käufer verpflichtet sich im Gegenzug, auf jeden Fall einen bestimmten Teil des Gases zu bezahlen, unabhängig davon, wie viel er im vereinbarten Zeitraum abgenommen hat.
Aber: „Werden die vertraglich vereinbarten Gasmengen nicht geliefert, greift die Take-or-Pay-Klausel nicht“, erklärte die Bundesregierung.
Auch die Reparatur der beschädigten Pipelines soll Deutschland nichts kosten. Presseberichten zufolge soll die Reparatur von Nord Stream 1 rund 500 Millionen Euro kosten. Laut der Bundesregierung ist eine deutsche Beteiligung jedoch nicht vorgesehen. „Die Bundesregierung unternimmt derzeit alle notwendigen Schritte, um die Versorgung der Verbraucher auch ohne russisches Pipelinegas langfristig sicherzustellen“.
Finanzielle Verluste durch Nord Stream 2
Ein großer finanzieller Schaden ist deutschen Unternehmen vorrangig durch die Nichtinbetriebnahme von Nord Stream 2 entstanden. Mehrere Großkonzerne hatten Millionenbeträge abschreiben müssen, weil die Pipeline nicht in Betrieb ging. Laut Handelsblatt befand sich zum Beispiel BASF unter den Betroffenen. Ebenso gehörten der deutsche Staatskonzern Uniper und der österreichische Konzern OMV dazu.
Das Projekt Nord Stream 1 hatte 7,4 Milliarden Euro gekostet. Dadurch hatte Deutschland jahrelang von vergleichsweise billigem russischen Gas profitiert – im Zuge des Umstiegs waren die Kosten für Energie in der Bundesrepublik gestiegen. Die russischen Blockaden vor und nach der Explosion weisen allerdings darauf hin, dass zumindest die Schäden an den Pipelines nicht dafür verantwortlich sind.