Der Arzt, der nicht aufhören kann: Reiner Valentin (71), Kinderarzt in Grafing

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Reiner Valentin ist seit 1992 Kinderarzt in Grafing. © Stefan Rossmann

Reiner Valentin ist Vollzeit-Kinderarzt mit Leib und Seele. Und er ist 71 Jahre alt. Beides gleichzeitig geht nicht, möchte man meinen. Doch für die Praxis in Grafing gibt es keinen Nachfolger.

Grafing - Der Arzt, der nicht aufhören kann, sagt über seinen Arbeitseifer: „Meine Frau macht mir die Hölle heiß.“ Reiner Valentin, 71 Jahre alt, hat sich in Grafing als beliebter Kinderarzt bis in die Region einen Namen gemacht. Seit 1992 praktiziert er in der Bärenstadt und macht es gern. „Ich bin Kinderarzt mit Leib und Seele“, sagt er. „Aber ich komme an die Belastungsgrenze.“

Seine Frau Claudia, die als Arzthelferin in der Praxis an der Schwarzbäckstraße mithilft, merkt das auch. Es ist nicht so, dass sie bei ihrem Mann auf taube Ohren stößt: Beide würden die Praxis gerne übergeben und öfter zum Wandern, Mountainbiken oder Stand-up-Paddeln ausrücken. Das Problem: Es findet sich weder Nachfolgerin noch Nachfolger. „Ich will, dass die Praxis in geregelten Bahnen weitergeht“, sagt Reiner Valentin darüber, weshalb er in seinem unbestritten rentenfähigen Alter weiter fünf Tage die Woche fiebernde und schniefende Kinderkörper abhorcht – und den Abend oft gerädert auf der Couch ausklingen lässt. Er kann nicht aufhören, weil er die Praxis, die Kinder, die Eltern, die Mitarbeiterinnen nicht im Stich lassen will.

Grafing: Suche nach Nachfolger läuft seit Jahren

An der finanziellen Ablöse für seine Praxis, Verhandlungssache, sei es bisher nicht gescheitert, sagt der Mediziner. Es finde sich schlicht kein Interessent, der oder die sich die Fünf-Tage-Woche mit Option auf Abend- und Wochenendeinsätze antun will. Auf dem Praxis-Anrufbeantworter hinterlässt Valentin schon mal seine Handynummer für Notfälle. Das muss man mögen.

Er beobachtet einen Trend, den ein Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) bestätigt: Viele junge Mediziner scheuen die Selbstständigkeit, da sie unwesentlich mehr verdienen würden, als in einem geregelten Anstellungsverhältnis in einer Praxis oder Klinik – ohne die Verantwortung für Buchhaltung, Räumlichkeiten, Mitarbeiter, Technik und so weiter. Es sei immer schwieriger, Ärztinnen und Ärzte für die offenen Niederlassungsmöglichkeiten zu finden, sagt KVB-Sprecher Axel Heise: „Das beschäftigt uns am meisten.“ Der zweite große Trend, der dort hineinspiele, sei der Wunsch nach Teilzeit. 50, 60 Stunden die Woche praktizieren und sich am Wochenende um die Abrechnung zu kümmern, sei nicht mehr zeitgemäß.

Sieben Kinderarzt-Praxen im Landkreis Ebersberg

Die KVB ist ein gern gescholtener Akteur, da sie sich um die Ärzte-Planstellen kümmert. Der Sprecher verweist jedoch auf den vom Bund vorgegebenen Schlüssel, der für den Landkreis Ebersberg etwa einen Kinderarzt für 2843 Unter-18-Jährige vorsieht. „Daran können wir nicht drehen“, sagt Heise. Für den Landkreis Ebersberg sei dieser Schlüssel auch nach der Schließung der Kirchseeoner Praxis durch die Ansiedlung im Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) der Kreisklinik erfüllt. Für einen offenen halben Sitz gebe es eine Bewerbung. Insgesamt zählt das Landratsamt sieben Kinderarzt-Praxen im Landkreis: in Ebersberg (2), Grafing, Markt Schwaben, Poing (2) und Vaterstetten.

Kritik, dass der Verteilungsschlüssel zu mager kalkuliert ist, kommt von Ärzte- und Elternseite immer wieder. Auch Kinderarzt Valentin treibt nach eigenem Bekunden die Sorge um, bei der hohen Zahl an kleinen Patienten, die er untersuchen muss, etwas zu übersehen.

Eine zweite, etwas unbequemere Komponente hat der Grafinger Mediziner aber außerdem ausgemacht: „Man sollte versuchen, die Eltern zu mehr Selbstständigkeit zu erziehen“, sagt er. Manche Mütter seien überängstlich. Was auch daran liege, dass Großfamilien, in denen die kindererfahrene Großeltern-Generation als Ratgeber fungiert, seltener würden.

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Er verweist darauf, dass gerade bei älteren Kindern auch erfahrene Hausärzte gute Ansprechpartner sein könnten – die sich im Zweifelsfall Rat beim pädiatrischen Fachkollegen holen würden. Zudem betont Valentin in Sachen Kindergesundheit: „Wir haben im Landkreis viele Möglichkeiten.“ Es gebe ein dichtes Beratungsnetzwerk gerade für Babys und Kleinkinder, zu dem etwa die Hebammen und die Koordinierende Kinderschutzstelle (KoKi) am Jugendamt gehören. Besonders legt der erfahrene Kinderarzt jungen Eltern das Infoabend-Angebot seiner Kollegin Veronika Spranger an der Kreisklinik ans Herz. Die Veranstaltungen sind auf der Klinik-Homepage „klinik-ebe.de“ unter „Aktuelles“ zu finden und werden auch regelmäßig in der Ebersberger Zeitung angekündigt.

Kinderarzt Reiner Valentin sagt trotz aller Widrigkeiten, er habe seine Berufswahl und die Entscheidung zur Selbstständigkeit nie bereut – falls er noch einmal von vorn anfangen würde, dann aber wohl in einer Gemeinschaftspraxis. Potenziellen Nachfolgern rät er, bei Interesse einfach in der Praxis anzurufen, um ins Gespräch zu kommen. Inzwischen seien viele ehemalige Patienten des Kinderarztes selber Eltern. Reiner Valentin freut sich darüber, sagt aber auch mit einem Lächeln in der Stimme: „Da merkt man, dass man langsam aufhören sollte.“

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