Rente: Experte weist auf Rechenfehler hin – und fordert: „Abgeordnete sollen als Erste einzahlen“
Der Druck auf die Merz-Regierung für eine große Rentenreform wächst. Experte Frank Nullmeier fordert gegenüber Ippen.Media weitreichende Änderungen im Sozialsystem – nämlich eine Vereinheitlichung.
Bremen – Die Rente steht vor dem Kollaps – das hört man immer wieder. Denn die geburtenstarken Jahrgänge der sogenannten Babyboomer-Generation verabschieden sich nun und in den kommenden Jahren in den Ruhestand, woraufhin immer mehr Rentner auf immer weniger Erwerbstätige kommen. Dies führe zu einem Kostendruck in der gesetzlichen Rentenversicherung und bringen das System an seine Grenzen. Frank Nullmeier, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen, sieht das anders.
Nullmeier war eines der Mitglieder der Rürup-Kommission und hat dieses Jahr in einem Gutachten für die Heinrich-Böll-Stiftung Entwicklungspfade skizziert, wie das Leben im Alter mithilfe politischer Maßnahmen auch für die Generationen nach den Babyboomer-Jahrgängen noch gesichert werden könnte. IPPEN.MEDIA hat mit Nullmeier über die aktuelle Rentenpolitik gesprochen und darüber, wie man das deutsche Rentensystem zukunftsfest machen könnte.
Rentenpolitik der Merz-Regierung: Experte verteidigt Stabilisierung des Rentenniveaus
Herr Nullmeier, Rentenniveau halten und Ausweitung der Mütterrente: Ist die schwarz-rote Koalition auf dem richtigen Weg, um das deutsche Rentensystem zu stabilisieren?
Frank Nullmeier: Die allerorts zu hörende öffentliche Kritik an dem Rentenpaket ist überzogen oder sogar verfehlt. Die Stabilisierung des Rentenniveaus ist deshalb angemessen, weil sonst immer mehr Rentnerinnen und Rentner zusätzlich Wohngeld oder Grundsicherung beziehen werden müssen. Die Renten sind nicht sehr hoch, eine Absenkung des Rentenniveaus kann schnell Personen mit niedrigen Renten zu „Aufstockern“ machen. Sie müssen dann neben der regulären, selbst erarbeiteten Rente noch bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen beziehen, also Wohngeld oder Grundsicherung, um ihre Miete zahlen zu können. Wir werden bei Verzicht auf die Niveaustabilisierung zwar für Rentenleistungen weniger ausgeben, aber die Ausgaben für Wohngeld und Grundsicherung würden steigen.
Die Erhöhung der Mütterrente ist in der gegenwärtigen Phase der steigenden finanziellen Belastung ein teurer Fehler. Zwar handelt es sich um den letzten logischen Schritt zur Gleichbehandlung aller Mütter. Nur ließe sich dieser angesichts der Finanzbelastung durch die in Rente gehende Boomer-Generation auch verschieben, schließlich existiert die unterschiedliche Behandlung von vor 1992 geborenen und nach 1992 geborenen Kindern schon seit mehr als dreißig Jahren an.

Die Regierung hat ja noch etwas in Planung: Aktivrente und Frühstart-Rente
Die Aktivrente – die steuerliche Entlastung bei Erwerbstätigkeit jenseits der Regelaltersgrenze – halte ich für sinnvoll, weil sie Anreize zum Arbeiten setzt, aber nicht alle zur Weiterarbeit zwingt. Und mit der Frühstart-Rente gibt es jetzt etwas völlig Neues. Sie ermöglicht Vermögensbildung bei Kindern und Jugendlichen. Vieles kommt noch auf die Ausgestaltung an, aber wenn Eltern und Großeltern die 10 Euro pro Monat, die der Staat zahlen will, ergänzen könnten, wäre dies ein guter Anfang.
Längere Lebensarbeitszeit: „Diejenigen, die diesen Vorschlag machen, bestrafen sich letztlich selbst“
Wie bewerten Sie die Aussage von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche, dass die Lebensarbeitszeit verlängert werden muss?
Lebensarbeitszeit kann man dadurch verlängern, dass ältere Menschen Anreize erhalten, freiwillig weiterzuarbeiten. Das ist die Zielsetzung der Aktivrente, eine angemessene Maßnahme. Frau Reiche möchte aber die Regelaltersgrenze für alle anheben.
Für Menschen, die physisch oder psychisch anstrengende Tätigkeiten ausüben, wäre ein späterer Renteneintritt aber nicht zu leisten. Für sie wäre die weitere Heraufsetzung des Rentenalters faktisch eine Rentenkürzung, weil sie Abschläge bei vorzeitigem Rentenbeginn hinnehmen müssten. Außerdem, wie kann man die Belastung der Rentenkassen in den nächsten Jahren aufgrund der Boomer-Generation mildern durch Maßnahmen, die erst ab 2030 greifen? Das trifft nur die heute 50-Jährigen und alle, die noch jünger sind! Diejenigen, die diesen Vorschlag machen, bestrafen sich letztlich selbst, weil sie die Betroffenen sein werden, aber nicht die, die man eigentlich treffen will: die jetzigen Alten.
„Es wird keinen Rentenkollaps geben.“
Das Rentensystem steht vor dem Kollaps, da der Kostendruck zu sehr steigt, liest man oft. Was meinen Sie dazu?
Das stimmt so nicht. Die Finanzierungsbelastung der Volkswirtschaft durch Ausgaben der Rentenversicherung steigt nicht, sie ist vielmehr vom Höchststand im Jahre 2004 von 10,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf heute 9,4 Prozent gesunken. Auch die Bundeszuschüsse, der größte Posten im Bundeshaushalt, sind seit 2000 von einem Maximum von 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf unter drei Prozent gesunken. Es gibt keine Anzeichen einer Überlastung der Volkswirtschaft durch die Rentenversicherung.
Auch der Beitragssatz der Erwerbstätigen ist nicht zu hoch. Bereits im Jahre 1973 erreichte er das Niveau von 18 Prozent und liegt nach einer Steigerung auf 20,3 Prozent im Jahre 1997 seit 2018 stabil auf dem Niveau von 18,6 Prozent. Steigerungen in den nächsten Jahren sind also akzeptabel. Es ist nicht die Rentenversicherung, die aus dem Ruder läuft, die realen Probleme liegen bei der Kranken- und Pflegeversicherung.

Nullmeier spricht über „großes Missverständnis der Funktionsweise der Rentenversicherung“
Es gibt also keinen Rentenkollaps durch den demografischen Wandel?
Ja, es wird keinen Rentenkollaps geben. Zwar herrscht eine große Einigkeit in der Ansicht, dass die Rentenversicherung demografiebedingt scheitere. Das ist aber ein großes Missverständnis der Funktionsweise der Rentenversicherung: Durch den demografischen Wandel, so die allgemeine Sichtweise, gibt es immer mehr Menschen im Ruhestand und immer weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter. Das Verhältnis von erwerbsfähigen Menschen, die die Rente finanzieren müssen, und Rentnern wird immer ungünstiger und deshalb kollabiert die Rente. Das ist die Argumentation mit dem sogenannten Altenquotienten. Da werden nur Köpfe gezählt, und zwar die in einem bestimmten Alter. Das ist aber gar nicht das, was für die Rentenversicherung ausschlaggebend ist.
Sondern?
Es geht darum, wie viele Menschen, gleich welchen Alters, wie viel Beiträge in die Rentenkassen einzahlen. Deshalb sollten möglichst viele Menschen in die Rentenversicherung einbezogen werden. Das bedeutet konkret: erhöhte Frauenerwerbstätigkeit, hier und da kürzere Ausbildungszeiten sowie eine Migration, die auch direkt in Erwerbstätigkeit führt. Zudem müsste man die Minijobs in sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit überführen.
Und der letztlich entscheidende Punkt ist: Man sollte jetzt darüber nachdenken, die Selbstständigen, Beamten und Abgeordneten auch in die Versicherungspflicht einzubeziehen. Dann hätte man einen viel größeren Personenkreis als Versicherte. Die Gesamtzahl der Versicherten mal ihren Beiträgen ist entscheidend für die Rentenversicherung.
Experte fordert: Selbstständige und Beamte sollen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen
Wie soll die Integration von Beamten und Selbstständigen ins Rentensystem aussehen?
Der erste Schritt könnte gleich ein symbolischer Akt sein: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags sollten in die deutsche Rentenversicherung einzahlen. Das bisherige System würde in eine Art betriebliche Alterssicherung zusätzlich zur gesetzlichen Rentenversicherung umgewandelt. Danach könnte man bei den Neubeamten weitermachen. In diesem Fall würden die Beamtenpensionen – unter Beibehaltung des für Beamte verfassungsrechtlich geltenden Alimentationsprinzips – als staatliche Zusatzrente gezahlt. Und in einem dritten Schritt könnte man die neuen Selbstständigen in die Rentenversicherung integrieren: Bei dieser Gruppe wird es wahrscheinlich am schwierigsten. Denn bei ihnen gibt es ja keine Aufteilung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen. Da sind gerade in der Gründungsphase vielleicht besondere Regelungen erforderlich. Aber alle, die neu in den Status der Selbstständigen eintreten, müssten auch in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, weil sonst viele im Alter in der Grundsicherung landen – die aus Steuern finanziert wird.
„Wir müssen wieder funktionsfähiger werden als Gesellschaft und das heißt, wir müssen die Dinge einheitlich gestalten.“
Wie könnte das Rentensystem dann in Zukunft aussehen?
Eine wichtige grundsätzliche Erneuerung wäre gegeben, wenn nicht mehr jede Gruppe ihre eigenen Regelungen hätte. Der Sozialstaat zerfasert, Fachleute sagen, er sei fragmentiert. Das geht so nicht mehr. Wir sind in einer Situation, wo wir uns solche Sonderregelungen und Privilegien für einzelne Gruppen mit vielen Bürokratien nicht mehr leisten sollten. Wir müssen wieder funktionsfähiger werden als Gesellschaft und das heißt, wir müssen die Dinge einheitlich gestalten. Wir müssen dafür sorgen, dass alle in die Rentenversicherung einzahlen. Das ist dann das stabilste mögliche System. Wenn es finanziell schwierig wird, dann müssen alle beteiligt werden an der Bewältigung der Finanzierungslasten. Ein entscheidender Schritt hin zu einem integrierten Sozialstaat wären entsprechende Beschlüsse noch in dieser Legislaturperiode, damit die Rentenversicherung zu einem Sicherungssystem für alle wird.