Ein Jahr nach Aussage-Hammer - „Im großen Stil abschieben“: Was wirklich aus Scholz' pompöser Asyl-Ankündigung wurde

Im Thüringer Innenministerium wird der Anstieg der Abschiebungszahlen als Indiz dafür gewertet, dass die Bemühungen der Ausländerbehörden, ausreisepflichtige Personen abzuschieben, sobald dies tatsächlich und rechtlich möglich ist, zunehmend Erfolg haben.

„Allgemein können verbesserte Rahmenbedingungen ausschlaggebend sein, z.B. eine größere Aufnahmebereitschaft der Staaten, in die abgeschoben wird“, erklärt ein Sprecher des Ministeriums. Das seien erste Auswirkungen des Rückführungsverbesserungsgesetzes.

Allgemein habe der Bund zusammen mit den Ländern im November 2023 umfangreiche Maßnahmen zur Reduzierung von irregulärer Migration vereinbart und in diesem Zusammenhang auch Maßnahmen zur Verbesserung und Beschleunigung der Rückführung beschlossen.

Gesetze, Abkommen, Sicherheitspaket: Was seit der Scholz-Ansage (nicht) passiert ist

Auf Drängen der Länder, das betonen nahezu alle von FOCUS online befragten Ministerien, wurden verschiedene Gesetzesänderungen zur Beschleunigung von Abschiebungen eingeführt. Das sogenannte Rückführungsverbesserungsgesetz trat am 27. Februar 2024, rund fünf Monate nach der Ansage von Scholz, in Kraft. Nahezu alle befragten Bundesländer bewerten das zunächst positiv.

Zudem wurde die Liste der sicheren Herkunftsstaaten am 23. Dezember 2023, rund zwei Monate nach dem „Spiegel“-Interview des Kanzlers, um Georgien und Moldau erweitert. Die Berücksichtigung weiterer Staaten wie der Maghreb-Staaten sowie Armenien und Indien, wie von der Innenministerkonferenz gefordert, blieb jedoch aus.

Darüber hinaus hat der Bund seit 2023 Migrationsabkommen mit Ländern wie Indien, Georgien, Kenia und Usbekistan abgeschlossen. Aus diesen Ländern kommen jedoch nur wenige Migranten.

Mit unkooperativen afrikanischen Herkunftsstaaten hat der Bund jedoch keine Migrationsabkommen geschlossen, kritisieren einige Bundesländer auf Anfrage von FOCUS online. Dazu zählen Staaten wie Benin, Burkina Faso, Eritrea, Guinea-Bissau, Mali, Niger und Somalia.

Weitere Verbesserungen, unter anderem im Bereich der Abschiebungen, soll das sogenannte Sicherheitspaket der Ampel bringen, das am 18. Oktober 2024 im Bundestag und Bundesrat beraten wurde.

Ein Großteil aller Abschiebeversuche 2024 scheiterte

Während das Paket, das aus zwei Gesetzentwürfen besteht, den Bundestag passieren konnte, legte kurz darauf der Bundesrat sein Veto ein. Die Zustimmung der Bundesländer zum Entwurf des Gesetzes zur Verbesserung der Terrorismusbekämpfung blieb aus. Der Gesetzentwurf zur Verbesserung der inneren Sicherheit und des Asylsystems wurde beschlossen.

Einiges ist also seit der Ansage von Scholz, „endlich in großem Stil“, abschieben zu wollen, geschehen. Und die Zahlen aus den Bundesländern belegen: Erste Effekte sind bereits sichtbar. Fakt ist aber auch: Ein Großteil aller Abschiebeversuche scheiterte - im ersten Halbjahr 2024 waren es mehr als 60 Prozent.

Von insgesamt 24.066 geplanten Abschiebungen wurden zwischen Januar und Juni 14.601 nicht vollzogen, wie aus einer Aufstellung des Bundesinnenministeriums hervorgeht. Klar ist: In absoluten Zahlen werden also immer noch sehr wenige Menschen abgeschoben.

Obwohl also die meisten Bundesländer mehr statt weniger Abschiebungen verzeichnen, merken nahezu alle auf Nachfrage von FOCUS online an, dass seitens der Bundesregierung an wesentlichen Stellschrauben zu wenig oder gar nicht gedreht werde.

Abschiebepraxis: Was die Bundesländer kritisieren

Ein Kernproblem taucht dabei immer wieder auf: „Derzeit können oft selbst Täter schwerster Straftaten und islamistische Gefährder nicht abgeschoben werden, weil diese nach europäischem Recht ein Abschiebungsverbot erhalten“, teilt eine Sprecherin des sächsischen Innenministeriums auf Anfrage von FOCUS online mit.

Die Forderungen an den Kanzler: Die Bundesregierung müsse sich auf europäischer Ebene dafür einsetzen, dass Täter schwerster Straftaten und Gefährder von einem Abschiebungsverbot ausgenommen werden können.

Nach wie vor ein großes und aus Sicht der Länder nicht ausreichend gelöstes Problem: zu wenige Migrationsabkommen mit Herkunftsländern und deren mangelnde Kooperationsbereitschaft. Auch hier nehmen die Länder Bund und Kanzler in die Pflicht.

Ein Sprecher des Bayerischen Landesamtes für Asyl und Rückführungen erklärt: „Der Bund bleibt weit hinter den berechtigten Erwartungen zurück und geht die wesentlichen Herausforderungen im Bereich Rückkehr nicht oder nur sehr zögerlich und in kleinen Schritten an.“

In Bayern halte man die bislang ergriffenen Maßnahmen für „überschaubar und durch eine falsche Schwerpunktsetzung geprägt“. Konkret: Das deutsche Interesse an Abkommen für eine bessere Zusammenarbeit bei Abschiebungen stehe weder im Mittelpunkt der Verhandlungen, noch scheinen sie bei der Wahl der Partnerländer eine große Rolle zu spielen, so der Sprecher weiter.

Das zeige sich zum Beispiel daran, dass Migrationsabkommen mit Ländern wie Georgien und Moldau abgeschlossen wurden, wo Abschiebungen ohnehin schon recht gut funktionieren.

„Der Bund muss bewirken, dass alle in der EU ihren Verpflichtungen effektiv nachkommen“

Auch ohne die Abkommen gebe es keine erkennbaren wirksamen Maßnahmen der Bundesregierung, um durch diplomatische Beziehungen die Bereitschaft „schwieriger“ Herkunftsländer zur Zusammenarbeit zu verbessern. „Ein Tätigwerden des Bundes – dem allein die Pflege der auswärtigen Beziehungen obliegt – ist daher dringend erforderlich“, kritisiert Bayern.

Ganz ähnlich sieht man das in Rheinland-Pfalz. Dort erklärt eine Sprecherin des Ministeriums für Familie, Frauen, Kultur und Integration: „Der Bund muss auch bei den übrigen Mitgliedstaaten der EU bewirken, dass diese ihren Verpflichtungen aus der Dublin-III-Verordnung effektiv nachkommen.“ Das heißt, dass Betroffene in das europäische Land zurückgebracht werden, das für ihr Asylverfahren zuständig ist, weil sie dort zuerst ankamen.

In Sachsen-Anhalt betrachtet die mangelnde Kooperation einiger Herkunftsstaaten als größte Hürde. Eine Sprecherin teilt mit: Die Abschiebezahlen könnten nur dann entscheidend erhöht werden, wenn die Kooperationsbereitschaft der Herkunftsländer herbeigeführt werden würde. Dadurch könnten wesentlich mehr ausreisepflichtige Personen tatsächlich abgeschoben werden.

Denn: „In Sachsen-Anhalt stammen circa zwei Drittel der Ausreisepflichtigen aus Herkunftsländern mit fehlender oder unzulänglicher Kooperationsbereitschaft.“

„Wer nicht kooperiert, muss spüren, dass das Konsequenzen hat“

Siegfried Lorek, Staatssekretär im Ministerium der Justiz und für Migration in Baden-Württemberg, meint gegenüber FOCUS online: „Für eine geregelte Migrationspolitik ist es notwendig, dass Ausreisepflichten konsequent durchgesetzt werden.“

Die Länder bräuchten eine stärkere Unterstützung vom Bund. Vor allem müsse der Bund darauf drängen, dass die Herkunftsländer bei der Identitätsklärung und bei Abschiebungsmaßnahmen kooperieren.

„Dazu sollte er beispielsweise die Visaerteilung, Entwicklungshilfe und Investitionen in den Herkunftsländern an deren Kooperation im Migrationsbereich koppeln“, so der konkrete Vorschlag von Lorek. „Wer nicht kooperiert, muss spüren, dass das Konsequenzen hat.“

Kritisiert wird auch mehrfach, etwa in Brandenburg und Hessen, dass das Rückführungsverbesserungsgesetz Regelungen enthalte, die in der Praxis Rückführungen eher erschweren, wie etwa die Pflicht zur Bestellung eines Anwalts bei Abschiebungshaft.

Unzureichend, das betont eine Sprecherin des Innenministeriums in Sachsen, seien die Gespräche mit Ländern wie Syrien und Afghanistan: „Die Bundesregierung muss dringend mit Syrien und Afghanistan in einen belastbaren Rückkehrdialog eintreten, damit mindestens ausreisepflichtige Straftäter und Gefährder in diese Länder abgeschoben werden können.“