Die szenische Lesung von Carl Amerys Roman „Das Geheimnis der Krypta“ verlangte einiges von seinen Gästen ab und ging weit über eine Lesung hinaus.
Freising – Es war der letzte große Roman des Freisinger Ausnahme-Schriftstellers Carl Amery, der den erzählerischen Bogen weit spannte und die Phantastik sowie den magischen Realismus versetzt mit Science-Fiction-Elementen in die Domstadt holte. Unter dem Romantitel „Das Geheimnis der Krypta“ (List-Verlag, 1990) verneigte sich Amery tief vor seiner Heimat und setzte ihr ein literarisches Denkmal, das bis heute nachhallt. Nachhallen wird auch die Umsetzung einer szenischen Lesung zum Roman, die am vergangenen Wochenende für Furore sorgte. Denn kein geringerer als der Freisinger Kulturpreisträger Thomas Goerge, bekannt für Kunst auf höchstem Niveau, wagte sich zu einer Bühnen-Umsetzung des Krypta-Stoffes. Und die hatte es in sich.
Alle 20 Figuren auf die Bühne gebracht
Der Künstler Thomas Goerge hätte es sich leichtmachen und eine klassische Lesung des Amery-Romans auf die Bühne bringen können. Doch wer die Biographie von Goerge kennt, war sich bewusst, dass diese Lesung ein magisches Gesamtkunstwerk voller Schattenwürfen, aber auch Lichtfugen werden sollte. Enttäuscht wurde keiner, denn dem Kulturpreisträger muss attestiert werden: So ein Spektakel gab es in Freising schon lange nicht mehr. Über 20 Figuren des Romans, der immerhin an die 400 Seiten lang ist, wurden von zwölf Darstellern auf die Bühne des Kleinen Saals des Asams geholt und an einem Abendmaltisch positioniert, um von dort aus den literarischen Träumen von Amery auf- und wieder abzutauchen. Schlüpften die Rollen anfangs symbolisch aus der bekannten Bestiensäule der Dom-Krypta heraus, entführten sie, versteckt hinter den zur Säule passenden Masken, die Gäste in die Unterwelt des Doms. Dort hin, wo Amery seinen Anti-Helden Korbinian Irlböck nach dem Gewissen der Menschheit suchen ließ.
Thomas Goerge, der die Textfassung, die Regie, die Ausstattung und eine Rolle des Sprechers der Lesung übernahm, verlangte im weiteren Verlauf einiges von seinen Gästen ab, denn die Inszenierung war keine seichte Abendunterhaltung, sondern vielmehr ein fiebriger Brecht-Traum mit musikalischen Brüchen, die von einem Tom Waits hätten stammen können.
Gespenstisch, aber mit Hoffnung
Besonders ambitioniert: Die Lesung umriss nicht nur ein oder mehrere zentrale Kapitel, sondern führte über rund zwei Stunden durch den ganzen Roman, freilich zentriert auf Amerys wichtigste Schlaglichter. Was dem Ensemble mühelos gelang, war die Skizzierung der letzten Erzählung von Amery und eine große Würdigung des Werkes, aber auch des Autoren durch eine beeindruckende Interpretation. So setzte Thomas Goerge die Geschichte um ein unbekanntes Virus, das bewusst den Großteil der Bevölkerung auslöschen sollte, äußerst gespenstisch um, ohne dabei Amerys Menschenliebe und Hoffnung außer Acht zu lassen. Damit ist diese „Bühnenfassung“, die weit über eine Lesung hinausgeht, ein filigranes Gesamtkunstwerk.
Die zwei Aufführungen zeigten: Mit Thomas Goerge hat Freising einen Künstler, der Mut zeigt und Amerys Gedanken und Träume würdig weiterträgt, ohne auf verstaubte Mechanismen zu setzen. Der Abend war teilweise sperrig und unbequem und es war durchaus von Vorteil, den Roman zu kennen. Der Abend war aber auch noch etwas anderes: berauschend, bezaubernd und voller literarischer Magie, die Amery sehr gefreut hätte.
Es wirkten mit: Gabi George, Robert Ludewig, Thomas Goerge, Josef Reiml, Christoph Ammer, Gaby Rentz, Roland Goerge, Chiara Daucher, Korbinian Goerge, Karl-Heinz Kirchmann, Anna-Barbara Graßl sowie Emma Rentz. Komposition: Richard van Schoor. Organisation: Rudolf und Christa Goerge.