Russland lässt im Ukraine-Krieg verschleppte Kinder verschwinden – „schleichender, grausamer Prozess“
Entführt und vergessen? Die humanitäre Organisation Save Ukraine warnt vor Schweigen über die von Russland verschleppten Kinder.
Ein Bus stoppt vor der Schule. Der Fahrer öffnet die Tür, winkt die Kinder zu sich. Es geht auf einen Ausflug, verspricht er. Es gibt neue Klamotten und anständiges Essen. Die Jungen und Mädchen ahnen nichts Böses, fürchten sich wohl auch, der Aufforderung nicht nachzukommen. Sie steigen ein und verlieren alles, was sie bisher kannten. Mit solch perfiden Methoden verschleppe Russland in den besetzten Gebieten ukrainische Kinder, heißt es in Medienberichten.
Allein in den ersten Monaten des russischen Großangriffs seien etwa 19.500 Fälle von Zwangsdeportation registriert worden, sagt die Hilfsorganisation Save Ukraine unserer Redaktion. Sie führt regelmäßig Rettungsmissionen durch, um im Ukraine-Krieg entführte Kinder wieder in die Ukraine zu holen. 2023 reagierte der Internationale Gerichtshof auf Deportationen ukrainischer Kinder nach Russland mit einem Haftbefehl gegen Kreml-Chef Wladimir Putin. Zwei Jahre später: Stille. Die verschleppten Kinder der Ukraine geraten aus dem Blick. Auch bei den laufenden (Friedens-)Verhandlungen spielen sie keine Rolle. Und die Uhr tickt.

Ukraine-Krieg: Russland lässt verschleppte Kinder verschwinden – „Zeit nicht auf unserer Seite“
„Die Zeit ist nicht auf unserer Seite“, warnt Save Ukraine. In den besetzten Gebieten könne Russland ungestraft handeln. Und die Erfahrung zeige: Sobald Russland erfährt, dass Save Ukraine versucht, ein Kind ausfindig zu machen und zurückzubringen, verschwindet es. „Sie können adoptiert werden, ihren Namen ändern lassen, in eine andere Region verlegt oder in Waisenhäusern versteckt werden, sodass es fast unmöglich ist, sie zu finden“, erklärt die zivilgesellschaftliche Organisation. Die Kinder seien überall in Russland verstreut, sie landeten etwa in Pflegefamilien oder Heimen. Insgesamt 663 Kinder, darunter 146 Waisenkinder hat Save Ukraine nach eigenen Angaben dennoch zurück in die Ukraine bringen können.
„Besonders schlimm trifft es ukrainische Waisenkinder“, meint Autorin und Journalistin Sabine Oelmann. Nach ihnen suche keine Familie. Daher sei die Arbeit von Hilfsorganisationen wie Save Ukraine so wichtig. Oelmann ist Co-Autorin des Buches „Gestohlene Leben: Die verschleppten Kinder der Ukraine“ und sprach für ihre Recherchen mit Betroffenen – zurückgeführten Kindern sowie deren Angehörigen.
Ukraine-Krieg: Kinder teilweise schon vor drei Jahren verschleppt
Im Gespräch mit unserer Redaktion malt sie sich aus, was in den Köpfen der verschleppten Kinder vor sich gehen muss: „Was? Keiner holt mich? Bin ich denn nichts wert? Habt ihr mich vergessen? Liebt mich niemand?“ Einige seien schon vor drei Jahren aus ihrer Heimat verschleppt worden. „Das muss man sich vorstellen: drei Jahre in der Entwicklung eines Kindes. Was das bedeutet“, betont Oelmann. Andere bereits 2014, als Russland die Krim annektierte.
Wie einsam muss ein Kind sich fühlen, wenn es in den abgetretenen Gebieten zurückbleibt, fragt sich die Autorin. In den vermeintlichen „Friedensplänen“ der USA soll die Ukraine die russische Kontrolle über die Krim und andere Teile der eroberten Gebiete anerkennen. Von einer Forderung an Russland, die entführten Kinder vor einer Einigung zurückzugeben, fehlt jede Spur. Allgemein gebe es bis heute keinen wirksamen offiziellen Mechanismus für die Rückführung von Kindern aus Russland, sagt Save Ukraine.
Russland entführt Kinder: Save Ukraine warnt vor „schleichendem, grausamem Prozess“
Oelmann erklärt sich das geringe Interesse an den verschwundenen Kindern damit, dass sich „ein normaler Mensch dieses verstörende Thema“ kaum vorstellen könne. Zusätzlich fehle es an Aufklärung. Save Ukraine weist auf das schiere Ausmaß und die Komplexität der russischen Invasion hin: Kriegsverbrechen, Vertreibung, Zerstörung und die humanitäre Krise machen es der Welt schwer, sich auf die einzelnen Themen zu konzentrieren. Die erzwungene Deportation von Kindern sei jedoch nicht nur eine weitere Tragödie: Sie sei eine bewusste Strategie zur Auslöschung der Identität, zur Trennung von Familien und zur Zerstörung der Zukunft der Ukraine als Nation, heißt es.
Es gibt keine Fotos vom Schlachtfeld, keine direkten Explosionen. Save Ukraine beschreibt es als einen „schleichenden, grausamen Prozess der Auslöschung der Identität – im Stillen“. Laut der Organisation werden das Verschleppen der Kinder oft als „humanitäres“ Problem dargestellt, statt als das, was es wirklich ist: eine schwere Verletzung des Völkerrechts und eine Form des Völkermords. Ein Vorwurf, den auch ukrainische Juristen und Menschenrechtsaktivisten, wie etwa die Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk, teilen. Sie forderte im Interview mit unserer Redaktion auch Frauen am Verhandlungstisch – um Themen wie das der entführten Kinder einzubringen.
Save Ukraine weiß nach eigenen Angaben aus erster Hand von den Grausamkeiten, denen die entführten Kinder ausgesetzt sind: psychischer, physischer und sexueller Missbrauch, erzwungene militärische „Umerziehung“, Rekrutierung für die russische Armee und ideologische Indoktrination gegen ihre Familien, die Ukraine, ihre Religion. Die Rückkehr der Kinder in die Ukraine müsse eine Bedingung für jegliche Verhandlungen sein, fordert die Organisation. Auch Oelmann appelliert an die deutsche Regierung, die entführten Kinder zu einer Top-Priorität zu machen. (Anne-Kathrin Hamilton)