Warum kann der Westen nicht aufhören, Russland Waffentechnologie zu liefern?

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Einige Länder beginnen, gegen Exporte nach Russland vorzugehen. Aber sie müssen mehr tun, fordert Expertin Maria Shagina.

  • Auch 21 Monate nach Beginn des Überfalls auf die Ukraine erhält Russland noch wichtige Waffenkomponenten aus dem Westen.
  • Dabei ist gerade jetzt das Gleichgewicht der Kräfte auf den Schlachtfeldern fragil.
  • Was nötig ist, um den Strom sanktionsbrechender Exporte zu unterbrechen, erklärt Forscherin Maria Shagina in diesem Text.
  • Dieser Artikel liegt erstmals in deutscher Sprache vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn am 9. November 2023 das Magazin Foreign Policy.

Washington, D.C. – Russlands Krieg in der Ukraine geht in den dritten Winter – endlich richten westliche Aufsichtsbehörden, die Sanktionen gegen Moskau durchsetzen, nun ihre Aufmerksamkeit auf Russlands Produktion und Beschaffung von Waffen und deren Komponenten. Trotz westlicher Exportkontrollen für militärische Güter und wichtige Komponenten hat Russland die Waffenproduktion in allen Bereichen hochgefahren: Von Drohnen und Marschflugkörpern, die ukrainische Zivilisten töten, bis hin zu Kampffahrzeugen und Artillerie, mit denen ukrainische Truppen an der Front geschlagen werden.

Es gibt zahlreiche Berichte über neu produzierte russische Waffen, die mit westlichen Komponenten bestückt sind. Etwa die leistungsstarken Kinschal- und Iskander-Raketen, die mit Chips von Texas Instruments und deutschen Spulen hergestellt wurden.

Waffen im Ukraine-Krieg: Das Gleichgewicht könnte sich zugunsten Russlands verschieben

Das Ziel der westlichen Unterstützer der Ukraine besteht darin, jeden Knotenpunkt in Russlands militärischer Versorgungskette zu unterbrechen; den Kreml seiner Fähigkeit zu berauben, Militärtechnologie zu beschaffen, und dem russischen militärisch-industriellen Komplex höhere Kosten aufzuerlegen.

Der Krieg droht aber auch, die westlichen Vorräte an bestimmten Gütern, wie etwa Munition, zu erschöpfen. Es besteht die Gefahr, dass sich das Gleichgewicht zwischen dem, was der Westen der Ukraine zur Verfügung stellen kann, und dem, was Russland selbst herstellen oder aus anderen Quellen, einschließlich Iran und Nordkorea, beschaffen kann, verschiebt. Daher ist zu einer der wichtigsten Prioritäten der westlichen Regulierungsbehörden geworden, zu verhindern, dass Russland Ausfuhrkontrollen umgeht, um an die zur Fortsetzung des Krieges benötigten Güter zu gelangen.

Wladimir Putin im Oktober 2022 bei einem Truppenbesuch in der Oblast Rjasan.
Wladimir Putin im Oktober 2022 bei einem Truppenbesuch in der Oblast Rjasan. © IMAGO/Mikhail Klimentyev/Kremlin Pool

Seit Februar 2022 haben die Vereinigten Staaten und 37 weitere Länder weitreichende Ausfuhrkontrollen für Russland eingeführt, doch die Durchsetzung der Vorschriften verzögert sich. Russland ist es gelungen, die Beschränkungen durch eine Kombination von Taktiken zu umgehen: Umleitung kritischer Importe über Drittländer oder Umschlagplätze, Verschleierung von Zolldaten und Nutzung ziviler Vertretungsorgane zur Umleitung von Gütern an Militärfirmen. Da die russische Militärproduktion in hohem Maße auf ausländische Komponenten angewiesen ist, wurden Unternehmen, die in Ländern registriert sind, die sich nicht an den Sanktionen beteiligen - wie China, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate - zu wichtigen Drehscheiben für die Wiederausfuhr westlicher Technologie.

Russland und Belarus erhalten „besorgniserregende Güter“ – Ukraine-Koalition erweitert Liste

Im Juni 2022 veröffentlichten das Financial Crimes Enforcement Network (FinCEN) des US-Finanzministeriums und das Bureau of Industry and Security (BIS) des US-Handelsministeriums eine Liste besorgniserregender Güter und Waren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nach Russland und zu dessen engem Verbündeten Belarus umgeleitet werden. Vor kurzem haben die Mitglieder der internationalen Koalition, darunter die Vereinigten Staaten, die Europäische Union, Großbritannien und Japan, ihre Listen koordiniert und auf 45 hochprioritäre Güter erweitert.

Die „besorgniserregenden Güter“, darunter integrierte Schaltkreise, Speicherbausteine und Funknavigationsempfänger, werden von Russland für seine präzisionsgelenkten Waffensysteme wie den Marschflugkörper Kalibr, den Marschflugkörper Kh-101 und das unbemannte Luftfahrzeug Orlan-10 verwendet, für die Moskau jedoch keine oder nur begrenzte Produktionskapazitäten im eigenen Land hat.

Russlands geheime Importe im Ukraine-Krieg: Der Finanzsektor spielt eine besondere Rolle

Die Konzentration auf Waffenlieferketten hat Exportkontrollen wieder auf die Liste der westlichen Prioritäten gesetzt. Die Lage erinnert an die Bemühungen aus der Zeit des Kalten Krieges, den Zugang der Sowjetunion zu westlicher Technologie zu beschränken. Das Spektrum der relevanten Güter ist heute jedoch viel breiter als die traditionellen Ziele, militärische Güter und Güter mit doppeltem Verwendungszweck. Die Liste der kritischen Güter umfasst nun eine breite Palette von Industrie- und Konsumgütern wie Dieselmotoren, Digitalkameras und elektrische Geräte, die zur Herstellung von Waffen umfunktioniert werden können, was die Verfolgung der Exporte erheblich erschwert.

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Foreign Policy Logo © ForeignPolicy.com

Um die Durchsetzung der Sanktionen zu verbessern und Russlands Möglichkeiten zur Versorgung seines Militärs einzuschränken, haben die G-7-Länder die Überwachung ihrer Unternehmen verstärkt. Die Aufsichtsbehörden haben zahlreiche Leitlinien und Warnhinweise herausgegeben, um die Unternehmen über das erhöhte Risiko von Verstößen gegen die Ausfuhrkontrolle zu informieren. An der Spitze der wirtschaftlichen Kriegsführung steht aber wieder einmal der Finanzsektor.

Nach dem 11. September 2001 wurden die Finanzinstitute für die westlichen Aufsichtsbehörden zur wichtigsten Anlaufstelle für die Verfolgung von Sanktionsverstößen. So konnten die US-Behörden beispielsweise die Vormachtstellung des Dollars und die Kontrolle der USA über einen Großteil der Leitungen des globalen Finanzsystems nutzen, um Gegner wie den Iran zu isolieren. Mit dem Zugang zum SWIFT-System, über das Zahlungen weltweit abgewickelt werden, könnten US-Regulierungsbehörden und Ermittler Finanztransfers verfolgen und die US-Sanktionspolitik extraterritorial durchsetzen. Die Erfahrung seit dem 11. September 2001 hat gezeigt, dass das Überwachen von Finanztransaktionen die Durchsetzung von Sanktionen und die Aufdeckung von Verstößen wesentlich einfacher gemacht hat als der Versuch, die physische Bewegung von Waren zu verfolgen.

Russland-Sanktionen im Fokus: Der Druck auf den Finanzsektor wächst

Ein ähnlicher Wandel vollzieht sich nun bei der Durchsetzung von Russland-Sanktionen – wobei der Druck auf den Finanzsektor zunimmt, Verstöße gegen die Ausfuhrkontrolle besser zu überwachen. In einem beispiellosen Schritt haben FinCEN und BIS drei gemeinsame Warnungen an Finanzinstitute herausgegeben, in denen sie mahnen, verdächtige Transaktionen oder andere Verhaltensweisen zu melden und sie über russische Umgehungstaktiken zu informieren. Zu den Warnsignalen gehören kurzfristige Änderungen der Zahlungsströme, die Weigerung eines Kunden, Informationen über Endverbraucher zu liefern, und eine fehlende Internetpräsenz.

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Zur Verstärkung der Exportkontrollen hat sich im Juni eine neue internationale Koalition gegründet. Unter dem Namen Export Enforcement Five (oder E-5, bestehend aus Australien, Großbritannien, Kanada, Neuseeland und den Vereinigten Staaten) hat die Gruppe einen gemeinsamen Leitfaden herausgegeben, um die Exportkontrollen zu koordinieren und das Abzweigen wichtiger Güter nach Russland über Drittländer zu verhindern. Dadurch verlagert sich die Last der Vorschriftseinhaltung von den Exporteuren auf den Bankensektor. Die Bankinstitute werden nun aufgefordert, ihre Sorgfaltspflicht zusätzlich zu den bereits bestehenden Verpflichtungen zu verstärken. Dies könnte die Anforderung zusätzlicher Unterlagen, wie etwa Endnutzerbescheinigungen und Verträge, sowie die Suche nach ungewöhnlichen oder abnormalen Transaktionen beinhalten.

Russland bekommt Elektronik auch aus den USA – China, die Türkei und die Emirate spielen mit

Der Druck scheint Früchte zu tragen. Bis September hatten die US-Banken der US-Regierung 400 verdächtige Transaktionen gemeldet. Das US-Handelsministerium hat diese Berichte über verdächtige Aktivitäten in einem Drittel seiner Ermittlungsfälle verwendet. In einem Fall ging es um drei russische Staatsangehörige, die beschuldigt wurden, Mikroelektronik aus den USA über Drittländer nach Russland zu schicken. In Zusammenarbeit deckten US-Regierungsbehörden wie der Task Force KleptoCapture und der Disruptive Technology Strike Force mehrere illegale Beschaffungsnetzwerke auf. Der jüngste Fall betraf die Unterbrechung der internationalen Lieferketten Russlands für Halbleiter und Elektronik mit doppeltem Verwendungszweck über China, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate.

Auch die EU verstärkt unterdessen allmählich ihre Bemühungen gegen Steuerhinterziehung. Ende Oktober verurteilte ein niederländisches Gericht einen russisch-niederländischen Doppelbürger wegen des illegalen Verkaufs von Computerchips an Unternehmen, die mit dem russischen Verteidigungssektor verbunden sind – wobei die Lieferungen über die Malediven umgeleitet wurden. Im Juni stellte die EU ein Instrument vor, das als Abschreckung gegen die Umleitung über Drittländer dienen soll. Die EU kann damit die Ausfuhr von Waren und Technologien in Drittländer beschränken, bei denen ein hohes Umgehungsrisiko besteht.

Russlands Waffenimporte: Ein ständiges Katz-und-Maus-Spiel

Das bevorstehende 12. Sanktionspaket der EU soll eine Schwachstelle der EU-Sanktionen beheben – die Wiederausfuhr kritischer Güter. Sollte die Maßnahme angenommen werden, wären EU-Unternehmen endlich verpflichtet, in ihre Verträge Klauseln aufzunehmen, die die Ausfuhr von Waffenkomponenten in Drittländer verbieten, wie es in den Vereinigten Staaten bereits der Fall ist. Brüssel hat auch den Informationsaustausch verbessert, indem es die nationalen Ausfuhrkontrolllisten der Mitgliedstaaten zusammengestellt hat. Die Koordinierung der nationalen Ausfuhrkontrolllisten würde Schlupflöcher schließen und Russland und seine Lieferanten daran hindern, die unterschiedlichen Vorschriften der EU-Mitgliedstaaten auszunutzen.

Der Westen muss dringend das Netz viel weiter spannen.

Um aber im Katz-und-Maus-Spiel zwischen Exportkontrollen und deren Umgehung die Nase vorn zu haben, müssen die G7-Länder ihren Ansatz überdenken. Die bloße Verlagerung der Last der Einhaltung der Vorschriften auf die Finanzinstitute wird nicht automatisch zu weniger Verstößen gegen die Ausfuhrkontrolle führen. Den Banken fehlt es an internem technischen Fachwissen über Waffenkomponenten. Und während Compliance-Abteilungen gut darin sind, „Know-your-customer“-Regeln umzusetzen, sind die von ihnen verwendeten Softwaresysteme notorisch schlecht darin, Güter mit doppeltem Verwendungszweck zu identifizieren und Verstöße zu erfassen.

Das bedeutet, dass Banken und andere Unternehmen können die Aufgabe nicht allein bewältigen – nötig ist ein gesamtstaatlicher Ansatz. Anstatt dass die Regierungen den Schwarzen Peter dem privaten Sektor zuschieben, ist eine bessere Koordination zwischen Zoll, Exportkontrollbehörden, Nachrichtendiensten und Finanzinstituten dringend erforderlich, um die gesamte Lieferkette zu erfassen und Umgehungstaktiken zu erkennen.

Ukraine im Krieg in der Sackgasse: Was die EU und der Westen jetzt bei den Russland-Sanktionen tun müssen

Zweitens ist die Verbindung zwischen Geldwäsche und Umgehung von Exportkontrollen besonders erstarkt. Hinterzieher setzen in großem Umfang auf Briefkastenfirmen, Scheinfirmen und verschiedene undurchsichtige Strukturen, um das eigentliche wirtschaftliche Eigentum zu verschleiern. Das macht es Regierungsbehörden und dem privaten Sektor unglaublich schwer, Lieferketten zu überprüfen. Öffentliche Register können das Problem des wirtschaftlichen Eigentums angehen, eine häufige Schwachstelle bei Sanktionen und Exportkontrollen.

Dazu muss die EU aber noch ihre Hausaufgaben machen. Sie muss den Zustand der öffentlichen Register verbessern, für genaue und zugängliche Daten in allen EU-Mitgliedstaaten sorgen und die Vorschriften zum wirtschaftlichen Eigentum harmonisieren. In Großbritannien ist Ende Oktober das Gesetz über Wirtschaftskriminalität und Unternehmenstransparenz („Economic Crime and Corporate Transparency Bill“) in Kraft getreten, das sich mit dem Problem der Kommanditgesellschaften befasst, die für ihren Mangel an Meldepflichten und Steuertransparenz berüchtigt sind.

Schließlich müssen die westlichen Regulierungsbehörden verstehen, dass Russland eine umfassende Strategie der militärisch-zivilen Verschmelzung verfolgt, zu der auch die systematische Ausnutzung von Schlupflöchern in der Ausfuhrkontrolle gehört. Akademische Forschungsinstitute, das Kernenergiekonglomerat Rosatom, Energieriesen wie Gazprom und eine ganze Reihe scheinbar ziviler Einrichtungen sind aktiv an der Weitergabe von hochprioritären Gütern an russische Rüstungsunternehmen beteiligt. Der Westen muss dringend das Netz viel weiter spannen und umfassende Beschränkungen für alle Unternehmen, auch für vorgeblich zivile, die mit dem russischen und belarussischen militärisch-industriellen Komplex zusammenarbeiten, erlassen.

Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Waleri Saluschnyj, hat darauf hingewiesen, dass der Ausgang des Krieges nicht nur von der Quantität, sondern auch von der Qualität und dem technologischen Niveau der Waffen auf beiden Seiten abhängen wird. Ein hartes Durchgreifen gegen Verstöße gegen die Ausfuhrkontrolle, deren Urheber und finanzielle Förderer ist ein wichtiger Weg, um sicherzustellen, dass die Ukraine aus der Sackgasse auf dem Schlachtfeld herauskommt.

Zur Autorin

Maria Shagina ist Senior Research Fellow für Sanktionen, Standards und Strategie am Internationalen Institut für Strategische Studien. Twitter (X): @maria_shagina

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Dieser Artikel war zuerst am 9. November 2023 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung.

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